10 - Ins Auge gegangen

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Binnen weniger Sekunden liege ich auf dem Boden. Wurde einfach auf den Boden geschubst. Aber nicht von dem Jungen - Alex hat mich zur Seite gedrückt und den Typen am Boden ordentlich fixiert.
"Phil!", brüllt Alex über die schallenden Sirenen hinweg, dass es mir in den Ohren dröhnt.
Gebannt starre ich auf Alex. Ich weiß nicht, wie mir im Moment geschieht. Nur die Wärme, die mir in einem kleinen Rinnsal über das Gesicht läuft, kommt bei mir wirklich an. Und neben der Wärme auch die bittere Kälte, die sich durch die dünne Schneedecke nass durch meine Kleidung frisst.
Phils Schritte knirschen auf dem Boden.
"Einmal Schlag aufs Auge. Oder daneben. Ich weiß nicht genau", teilt Alex Phil die Lage des Schlages mit, die selbst ich noch gar nicht wirklich lokalisieren konnte.
Wortlos werde ich gepackt und auf meinen Füßen abgestellt.
"Das sieht ja gar nicht gut aus", stellt Phil sofort fest, ehe er leicht mein rechtes Jochbein abtastet. Klingt super, macht richtig Mut.
"Achtung", zischt er im nächsten Moment und wischt mir über mein Lid. Mit meinem linken Auge sehe ich das Blut, welches er nach dieser Aktion am Finger hat.
Mein Blut. Mir wird übel.

Der Streifenwagen ist das erste Fahrzeug, welches bei uns hält. Zwei mir unbekannte Polizisten lösen Alex ab, der darauf zur Feuerwehr eilt, die hinter der Polizei kam. Und um diesen Einsatz vollständig zu machen, trifft keine Minute später ein RTW ein. Ursprünglich zum Eigenschutz, aber sie können natürlich direkt Arbeit haben.
"Kannst du laufen?" Phil mustert mich skeptisch.
Selbstsicher nicke ich. Klar, warum nicht?
"Du zitterst wie ein Blatt im Wind", kommt dort auch schon Phils Sorge auf meine nicht ausgesprochene Frage.
Ich schlucke die Übelkeit herunter. Versuche es zumindest krampfhaft, doch mein Hals ist trocken, dass das Schlucken schmerzt.
Eine Tür knallt. Mein Blick, der unter Phils scharfen Augen liegt, schnellt zum RTW. Meine erste Reaktion? Ich drehe mich mit Schwung um.
Phil greift reflexartig nach meinem Arm. "Hey, alles gut? Komm, wir gehen zum RTW, das muss versorgt werden."
"Nein, alles gut, wirklich", beteuere ich, doch meine Stimme sagt etwas anderes. Sie klingt, als würde ich über Pflastersteine fahren, so sehr zittert sie.
"Ein Einsatz vor dem eigenen Haus, nie schön."
Ich versteife mich.
"Alles gut bei euch? Wessen Auto", Papas Schritte werden schneller, "hats erwischt?"
Phil geht nicht auf Papas Frage ein. Schade. "Oh Franco, das ist ja nicht gerade schön", bemerkt Phil. Richtig. "Fine hats erwischt."
Die Anspannung, die augenblicklich von Papa ausgeht, umhüllt mich wie ein Umhang. Wärmt mich leider trotzdem nicht - eher im Gegenteil.
Eine warme Hand legt sich auf meine Schulter, dafür lässt mich die andere warme Hand an meinem Arm los. Ich werde zu Papa gedreht. Seine Augen werden groß. Aber das muss ja nicht direkt etwas bedeuten, oder? Immerhin bin ich seine Tochter, da sehen Verletzungen für ihn vielleicht schnell mal dramatischer aus, als sie eigentlich sind.
Das sieht ja gar nicht gut aus. Phils Worte wiederholen sich in meinem Kopf. Vielleicht liege ich mit meiner Annahme falsch.
Ohne viele Worte werde ich zum RTW geschoben.
"Wie hast du das geschafft?", möchte Papa wissen.
Ich antworte ihm nicht, weiß ich doch jetzt schon, dass ich kaum ein ordentliches Wort herausbekommen würde.
"Alex war dabei, ich hole ihn mal", schiebt Phil ein und verschwindet.
Mir bekommt diese ganze Situation absolut nicht. Unsere Straße wird von Blaulichtern verschluckt, die Flammen kämpfen mit ihrem starken orange dagegen an. Dieses Bild wird sich in meinen Kopf brennen.

Jacky lehnt am RTW und sieht schon aus der Ferne nicht begeistert aus, als sie mich sieht. Ihre Arme sind vor der Brust verschränkt, sie verzieht ihr Gesicht. Dann drückt sie sich mit Schwung ab, öffnet die Seitentür und verschwindet im Fahrzeug.
"Einmal auf die Trage, bitte", werde ich von Papa mit einer einladenden Geste angewiesen.
"Wie konnte das bitte passieren?" Jacky mustert meine rechte Gesichtshälfte, drückt mir gleichzeitig aber auch direkt eine Kompresse auf die scheinbare Wunde, was mich zischen lässt.
Die Übelkeit legt einen Gang zu.
"Ist dir kalt? Du zitterst." Papa greift an mein Handgelenk.
"Kalt", flüstere ich durch zusammengebissenen Zähnen. "Und nein, ich..." Meine Stimme versagt kläglich. "Weiß das wirklich nicht", kommt es nach einer kurzen Pause schwach hinterher.
"Mh", brummt Papa unzufrieden. Er nimmt die Kompresse wieder runter. Sie hat mein halbes Auge bedeckt, woraus ich schließe, dass das eine ganz knappe Sache war.
"Für mich sieht das wirklich nach einem Fall zum Nähen aus", murmelt er zu Jacky, jedoch nicht leise genug.
Ich stöhne auf. "Geht das nicht auch so?"
Papas Augen fangen meinen Blick. "Nein. Und du hattest sogar noch Glück. Das hätte ins Auge gehen können - wortwörtlich."

Papa und Jacky werkeln an mir herum, bis jemand in den RTW gestolpert kommt. "Ein Ring mit Nieten. Hässliches Teil, fragt nicht, wer das trägt. Das ist viel zu gefährlich, sieht man ja", sprudelt es aus Alex heraus. "Wie sieht es aus?", schiebt er hinterher.
Das entlockt mir fast ein Schmunzeln. Zuerst sagen, dass man es sieht, dann nachfragen. Da ist jemand wohl ziemlich durch den Wind.
"Ein Ring mit Nieten?", hakt Papa nach und dreht sich zu Alex. "Wie ist der genau neben ihrem Auge gelandet?"
"Längere Geschichte", wimmelt Alex ab und lehnt sich über mich. Er schnappt nach Luft. "Ihr fahrt zum Nähen ins Krankenhaus, schätze ich?"
Jacky bejaht.
"Dann schicke ich euch Phil, damit er mitkommen kann. Ich muss mich hier noch um ein paar Dinge kümmern. Das war mein Auto. Ich wünsche dir schon mal frohe Weihnachten, Jacky."
"Mhm, danke, ich dir auch. Auch wenns situationsbedingt vielleicht nicht gerade passt." Jacky muss sich ein Grinsen verkneifen.
"Ach, Alex, halt!", ruft Papa aus dem RTW, als Alex schon draußen war. "Kannst du Josefine mal bitte einmal komplett Kleidung bringen? Ihre Klamotten sind nass."

Nach einer umständlichen Umziehaktion fährt Jacky los, Papa und Phil sitzen bei mir hinten.
"Ich habe davon irgendwie nichts mitbekommen", seufzt Phil schuldbewusst.
Papas Augenbrauen heben sich. "Wovon?"
"Davon." Mit seinem Zeigefinger deutet Phil auf die neue Kompresse neben meinem Auge, die inzwischen festgeklebt wurde. "Hätte ich da nicht so gebannt auf Alex' Auto gestarrt, hätte ich mich um den Typen kümmern können."
Ich schüttele schwach den Kopf. "Lass das", murmele ich. "Keine Vorwürfe", würge ich hervor. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Papa bemerkt meine missliche Lage und hält mir direkt einen Beutel unters Gesicht. Anscheinend hat er meine Übelkeit schon die ganze Zeit bemerkt.
"Wäre jetzt nur interessant, woher das kommt. Ich hoffe mal von dieser ganzen Situation, die dich überfordert", äußert sich Phil dazu.

1:43 Uhr. Hat man um diese Uhrzeit bessere Dinge zu tun, als in der Notaufnahme zu sitzen und von etlichen Menschen angestarrt zu werden? Eher weniger.
Vorsichtig löst Phil die Kompresse, um sie auszutauschen. Anscheinend schon wieder durchgeblutet.
Sehnsüchtig starre ich mit brennenden Augen auf Paulas Rücken. Sie steht am Empfang und telefoniert mit irgendeiner Station.
Als sie das Telefon schließlich wegsteckt und sich umdreht, kommt sie zielstrebig auf Phil und mich zu. Meine Müdigkeit schwindet um ein paar Prozent.
"Na dann möchte ich dich mal erlösen." Paula hält mir ihre Hand hin und zieht mich hoch.
"Erlösen?" Ich lache ironisch auf. "Du willst mich jetzt eher in die Hölle schicken."
"Ouh, sie wird müde, merkst du?", raunt sie Phil grinsend zu.
Ich sollte es so sehen: sie will nur das Beste aus dieser Lage machen.
Ha, viel zu positiv. Welche positiven Schlüsse kann man bitte aus dieser Nacht ziehen? Gut, sie haben einen Täter, aber...
"Sieh es so - es hätte auch ins Auge gehen können. Wortwörtlich", kommt es da viel zu euphorisch von Paula.
Diesen Satz habe ich nicht zum ersten Mal gehört.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt