88 - Ehrlich währt am längsten

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Mit festem Druck legen sich meine Hände um die Tasse, die mir Papa vor die Nase stellt. Im kalten Früchtetee spiegeln sich die vorderen Haarsträhnen, die sich aus meinem unordentlichen Dutt gelöst haben.
Es ist eine bedrückende Stimmung, die sich über uns gelegt hat.

Während der Dusche gab es bei mir jedoch einen Stimmungsumschwung. Durch die viele Zeit, die ich hatte, habe ich leider auch viel zu viel Zeit gehabt, über all die Dinge nachzudenken. Über den Verlauf meines Lebens und so einige Gespräche. Es war wahrscheinlich eine Kurzschlussreaktion, als ich vor der Klassenfahrt ein Gespräch mitbekommen habe, welches nicht für meine Ohren bestimmt war und Papa mir suggeriert hat, dass meine Mutter gestorben wäre. Ich habe es ihm in diesem Moment abgekauft und dachte, den Schlüssel zu allem gefunden zu haben. Inzwischen ist der Groschen bei mir gefallen: Sie war scheinbar einfach nur für ihn gestorben.
Wut hat sich in mir ausgebreitet, die jetzt in mir munter vor sich her brodelt und nur darauf wartet, von mir nach außen getragen zu werden.

„Die Beerdigung ist doch erst morgen", scherzt Phil ebenfalls angespannt, merkt jedoch schnell, dass dieser kleine Witz alles andere als angebracht war.
„Die letzten Tage haben sich wie eine niemals endende Beerdigung angefühlt", knirsche ich. „Oder soll ich lieber Scheinbeerdigung sagen?" Mein Blick trifft Papa. Genau ins Herz.

Es ist still. Keiner traut sich etwas zu sagen.
Also liegt es nun an mir, meiner Wut Luft zu machen. „Ich möchte eine Erklärung. Eine Erklärung für diesen Schrotthaufen, der von Anfang an ein wackeliges Lügengerüst war. Ihr wusstet doch, dass das nur eine Frage der Zeit sein muss, bis es in sich zusammenbricht und nur noch ein unbrauchbarer Haufen, umhüllt von einer Staubwolke, übrigbleibt. Und ich möchte verstehen, warum du, Alex, mich so hintergehen musstest. Du hast mich ahnungslos gelassen, mich einfach mit meiner Mutter unterhalten lassen, ohne mich in Kenntnis zu setzen, wen ich da vor mir habe. Es fühlt sich scheiße an." Ich hole Luft, schließe kurz meine Augen und schlucke. „Wenn der Spiegel in seinen sieben Jahren nicht genau jetzt seinen Höhepunkt erreicht hat, will ich nicht mehr. Dann will ich nicht mehr-"
„Sag das nicht!", schreitet Paula ein. „Es geht immer schlimmer."
Ja, es geht schlimmer. Es geht deutlich schlimmer. Doch sein Leben lang von seiner ‚Familie' angelogen zu werden, ist wohl vorn mit dabei.

Wieder Stille. Jeder legt sich Worte zurecht, die danach jedoch in den Tiefen der Gedächtnisse landen und dort für immer schlummern werden.
Alex' Blick kann meinen nicht festhalten. Er guckt nervös zu Papa. Sein Schlucken ist deutlich zu sehen. „Ich war mit der Situation auf Klassenfahrt einfach selbst überfordert", beginnt er, sich zu rechtfertigen. Seine Fingergelenke knacken, als er sie etwas zu sehr drückt. „Ich hatte schlaflose Nächte, in denen ich immer wieder kurz davor war, den Beschluss zu ziehen, dir die Wahrheit zu sagen. Aber ich konnte nicht. Es hätte sich falsch angefühlt, das über Francos Kopf hinweg zu machen. Ich wollte mich vielleicht auch etwas aus der Verantwortung ziehen, ja, aber der Gedanke, dass Franco dein Vater ist und somit das Recht hat, darüber zu bestimmen, hat dann doch jedes Mal überwogen."
Ich nicke. Meine Gedanken hängen irgendwo zwischen Verständnis und Fassungslosigkeit. Innerlich wächst meine Ungeduld, die Papas Schweigen auslöst.

Bis Papa sich plötzlich räuspert. „Richtig, ich bin derjenige, der dir eine Erklärung schuldig ist."
Und dann folgt ein langer Monolog, den ich so schnell nicht mehr vergessen werde. Vergessen kann.
„Wir haben uns damals in einem Supermarkt kennengelernt. Sie war neben der Schule dort eine Aushilfe, ich war schon in meiner Ausbildung. Da kam dann eins zum anderen, wir waren schwer verliebt, sie wurde früh schwanger. Es lief alles perfekt. So, wie ich es mir immer vorgestellt habe. Wir haben uns mit der Hilfe unserer Eltern auch später dieses Haus hier ermöglicht. Dann, nach ein paar Jahren, bist du gekommen. Wir waren vollkommen, ich hatte die Liebe meines Lebens an der Seite und die zwei wundervollsten Kinder. Doch wie es so ist – Unverhofft kommt oft. Ihr Vater, also dein Opa, ist gestorben. Sie wusste nicht mehr weiter. Ihr wurde der Boden unter den Füßen weggerissen. Ich habe ihr dann vorgeschlagen, sich eine Auszeit zu nehmen. Und in eben dieser Auszeit hat sie dann Pablo kennengelernt. Mit ihm ist sie dann durchgebrannt."
Papa hat Tränen in den Augen. „Sie war nochmal hier. Hat mir alles erzählt – zu viel erzählt. Ich wollte das alles gar nicht hören und erst recht nicht wahrhaben. Es hat keine großen Überlegungen gebraucht, was mit euch passiert. Sie wollte euch schlichtweg nicht mehr, um einen kompletten Neuanfang zu haben. Sie hatte vorgegeben, mit euch überfordert zu sein und hatte mir gegenüber geäußert, dass sie gemerkt hätte, dass Kinder nicht in ihr Leben passen würden. Sie wollte keine mehr. Und so blöd das auch klingen mag, aber im Grunde war ich darüber froh, denn so musste ich euch nie für eine Zeit abgeben und hatte auch die Hoffnung, dadurch mit ihr schneller abschließen zu können."

Es wirkt so, als würde er kurz überlegen, ob er die nächsten Worte noch sagt oder nicht – ich hätte sie lieber nicht gehört, denn sie reißen mir das letzte Stück Hoffnung an eine nicht komplett lieblose Mutter aus der Brust.
„Ich hatte zuerst nicht vor, dir gegenüber ein Geheimnis um sie zu machen. Aber als ich eines Tages von einer unbekannten Nummer ein Bild bekommen habe, auf dem sie einen kleinen Jungen auf dem Arm trug, den sie mit Pablo, der neben ihr stand, mit unglaublicher Liebe im Blick anguckte, war mir spätestens nach der Nachricht, die darunter stand, klar, dass ich nicht möchte, dass du auch nur die kleinste Sache über sie erfährst. Ich wollte nicht, dass du dieses Bild einer lieblosen Mutter bekommst, aber ich wollte dich auch nicht anlügen müssen. Das Bild war pure Provokation, die ich bis heute nicht verstehen kann."

Jegliche Erwiderungen bleiben mir im Hals stecken. Neben dieser Wahrheit sind noch zwei kleine Halbbrüder übriggeblieben. Das Interesse, sie oder geschweige denn meine Mutter richtig kennenzulernen, fehlt unerwartet. In mir klafft nur eine gähnende Leere.

Ich kann nicht anders, stehe auf und gehe zu Papa, den ich in eine feste Umarmung schließe.
Plötzlich habe ich nur noch wenige Gefühle übrig: Unbeschreibliches Mitgefühl für Papa und einen beginnenden Hass auf die Frau, die ihre Kinder einfach so abgeschoben hat. Das bunte Bild der positiv strahlenden, fröhlichen und liebenswerten Person bricht in sich zusammen. Übrig bleibt ein Bild in schwarz-weiß von einer verbitterten Frau, die nicht weiß, wie man mit Familie umzugehen hat.

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Das Kapitel ist schon seit mindestens einem Jahr vorgeschrieben gewesen, mit ein paar Ergänzungen, die aktuell sind. Und eigentlich war das das geplante letzte Kapitel dieser Geschichte.
Aber ich dachte, dass ich diese Geschichte mit etwas Gutem enden lassen will. Also war das nun doch nicht das letzte.

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt