39 - Natürliche Nachwirkung

2.8K 125 28
                                    

Ich schlucke den zähen Schleim in meinem Mund runter und muss husten.
Einer der beiden Männer greift zu einem kleinen Tischchen und hält mir kurz darauf ein Glas Wasser hin.
Argwöhnisch mustere ich das gefüllte Glas. Möchte er mich vergiften?
"Du kannst ein ganz kleines bisschen trinken, aber nicht zu viel. Vielleicht wird dein Hals dann besser", erklärt der Mann mit den Locken, nachdem ich mich nicht geregt habe.
Und das kann ich auch gar nicht.

Meine rechte Hand krallt sich in die Bettdecke, voller Hoffnung, sie würde mich vor den fremden Menschen schützen können.
Ich löse meinen Blick von ihm und hebe die Decke leicht an, die über mir liegt. Mein linker Arm ist in einem Gips verpackt, ich trage ein Krankenhaushemd. Kabel führen von meinem Körper weg, enden an Geräten.
Und rechts neben mir sitzen weitere zwei Menschen. Ein Mann, bei dem sofort das Italienische heraussticht, und eine Frau, die ihre Haare zu einem unordentlichen Knoten gebunden hat.
Meine Atmung wird schneller. "Was machen Sie alle hier in meinem Zimmer? Wo bin ich? Und was ist passiert?" Ich zittere, kann mich nicht kontrollieren. Jeder Atemzug sticht, äußert sich durch große Schmerzen im ganzen Brustkorb, die bis in den Bauch strahlen.

Unruhig, ja schon panisch wandert mein Blick wirr durch den Raum.
Der Mann mit den Locken, der mir zuvor schon das Wasser geben wollte, erhebt sich und verzieht kurz sein Gesicht. Von den anderen kommt ein leises Lachen, welches mein Herz für zwei Sekunden hüpfen lässt.
"Ich gehe mal einen Arzt holen", sagt er zu den anderen, ehe er den Raum verlässt.
"Können Sie bitte auch das Zimmer verlassen?", frage ich schwach. Ich möchte einfach nur schlafen. Und das bitte nicht mit fremden Leuten neben meinem Bett.
Sie tauschen Blicke aus und nicken. Die Frau steht auf, gefolgt von dem Mann, der neben dem Lockenkopf sitzt. Oder bis eben gesessen hat. Sein Gesicht hat freundliche Züge, doch er schüchtert mich auf einer gewissen Weise ein.

Schließlich bleibe ich mit dem Italiener allein zurück. Ich drehe meinen Kopf zu ihm und beschließe für mich, ihn nicht mehr aus den Augen zu lassen.
Seine Hand legt sich auf meine, an der ein Zugang liegt.
"Josefine, du hattest einen Unfall beim Turnen", beginnt er.
Ich reagiere nicht, starre ihn nur an und versteife meine Hand unter seiner Berührung.
"Du erkennst uns jetzt nicht, aber das kann ganz normal sein. Ich bin dein Vater."
Ungläubig weiche ich seinem Blick nun doch aus. Mein Vater. Kann das nicht jeder sagen? Plötzlich ist mir diese Situation unangenehm, sie fühlt sich befremdlich an.
"Da du jetzt zwei Tage vollständig im künstlichen Koma warst und fünf Tage langsam aufgewacht bist, können das die Narkosemittel sein, die dich so verwirren und uns als fremde Personen zeigen. In der Regel renkt sich das aber schnell wieder ein", erklärt er weiter. Es scheint ihm schwer zu fallen, denn seine tiefen Atemzüge zwischendurch zittern.

Mir fällt nicht ein, was ich darauf sagen kann.
"Mir tut alles weh", krächze ich schließlich unverständlich, doch er wird das gehört haben und nickt.
"Der Arzt kommt gleich."

Ich fühle mich, als hätte mich jemand verprügelt und danach noch überfahren. Mein Körper ist schwer, drückt sich von allein in die Matratze. Unsichtbare Hände scheinen an mir zu zerren, leise Stimmen flüstern mir im Kopf wirres Zeug zu.
Ich gucke meinen angeblichen Vater an, reiße meinen Blick von ihm los und starre an die Decke.
Verzweifelt blinzle ich, doch die Bilder vor meinen Augen gehen nicht weg.
Die Hände lassen nicht von meinem Körper ab, die Stimmen werden immer lauter.
Ich schnappe panisch nach Luft, habe jedoch das Gefühl, dass nichts dort ankommt, wo es ankommen soll.

"Fine, du musst dich beruhigen", dringt die Stimme von rechts lauter als alle anderen zu mir durch.
Mir fehlt die Kraft, seine Hand von meinem Arm zu schütteln, mir fehlt die Kraft, zu schreien.
Schreien. Am liebsten würde ich einen schrillen Schrei abgeben, mit dem ich alles verjagen kann.
Doch alles, was meine trockene, kratzende Kehle verlässt, ist ein erstickter Laut, der in den Stimmen meines Kopfes untergeht.

Meine Arme zittern, während sie sich am Holmen halten. Mit Schwung wuchte ich mich in den Handstand.
Trotz des Magnesiums kommt mir der Halt rutschig vor, doch die Hand in meinem Rücken gibt mir Sicherheit.
Ich zähle im Kopf runter, lasse mich jedoch schon fallen, bevor ich bei eins bin. Aus Angst, meine Arme könnten nachgeben.
Eine Runde ist geschafft, ich habe den nötigen Schwung.
Die zweite, dann die dritte. Und dann...
Ein lauter Knall öffnet meine Hände wie von allein. Verzweifelt drehe ich mich, spüre jemanden an meinem Körper, doch die Hände streifen mich nur, statt mich fest zu packen.
Der Aufprall ist hart und nimmt mir die Luft zum Atmen.
Von jetzt auf gleich erlischt das Bild vor meinen Augen.

"Fine, du träumst nur!"
Ich reiße meine Augen auf und starre in Papas Gesicht. Ich merke den Schweiß auf meiner Stirn, den Schweiß an meinem ganzen Körper.
"Ruhig atmen", sagt er leise und streicht mir liebevoll über den Kopf, während ich mich verzweifelt auf seine Augen konzentriere, die die gewohnte Ruhe ausstrahlen.

Ich werde nie wieder turnen können, schießt es mir durch den Kopf. Wie soll ich mich jemals nochmal dazu überwinden?
Nur mit größter Mühe kriege ich die Kurve und kann mit Papas Blickkontakt meine Atmung in den Griff bekommen.

Ich gucke mich in dem spärlich beleuchteten Zimmer um und entdecke Phil, der links neben mir sitzt und seine Augen besorgt zusammengekniffen hat.
Er sieht gar nicht gut aus. Auch Papa sah mal besser aus. Sein Gesicht scheint um Jahre gealtert zu sein und seine Augen sind rot unterlaufen. Sie sind glasig, als hätte er geweint. Warte - geweint?
"Papa?"
"Ja meine Kleine?" Seine Stimme ist von einem feinen Zittern unterstrichen, welches augenscheinlich an seinem ganzen Körper nagt.
"Warum hast du geweint?", frage ich direkt heraus und mustere ihn prüfend.
Er schüttelt den Kopf und zwingt sich zu einem Lächeln. "Ich habe nicht geweint", streitet er ab, doch kann die Lüge nicht gut genug verdecken.
Seufzend drehe ich meinen Kopf du Phil. Nach Gefühl habe ich eine Sauerstoffbrille im Gesicht, deren Kabel mir gerade etwas beengend vorkommt. "Phil, Papa hat geweint, oder?"
Seine Augen weiten sich. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, verfliegt jegliche Besorgnis aus seinem Gesicht. Er springt auf, sagt kein Wort, lässt sich wieder auf seinen Stuhl fallen und guckt über das Bett hinweg zu Papa.
Habe ich eine falsche Frage gestellt? "Ist alles okay mit dir?", hinterfrage ich vorsichtig. Vielleicht sollte ich mir Sorgen machen.
"Du hast mich gerade also erkannt und nicht einfach Papa gesagt, weil ich dir das heute Vormittag erzählt habe?", kommt es hoffnungsvoll von Papa.
Verwundert über diese Aussage ziehe ich meine Augenbrauen zusammen. "Natürlich, warum sollte ich dich nicht erkennen?"
"Du dachtest vorhin, ich würde dich mit Wasser vergiften wollen", mischt Phil sich aufgelöst ein. "Du hast nicht mal Franco als deinen Papa erkannt."

Irgendjemand muss den Stecker meines Gehirns gezogen haben. Oder es wurde auf 'Löschen' gedrückt. Auf Werkseinstellungen zurückgesetzt. Mir fehlt jeglicher Zusammenhang. Zurück bleibt pure Verwirrung, die mich zweifeln lässt.

Als Papa nach meiner rechten Hand greift, durchfährt mich ein vertrautes Gefühl, welches mich ein wenig beruhigt.
"Du wirst durch die Narkose noch ziemlich verwirrt sein. Vorhin, als du das erste Mal richtig aufgewacht bist, hast du keinen erkannt und eine Panikattacke bekommen", wird mir von ihm ruhig erklärt. "Vielleicht habe ich deswegen ein paar Tränen vergossen, ja", gibt Papa noch zu und lächelt mich schief an.
Beim besten Willen kann ich mich nicht daran erinnern.
"Ein paar", schnaubt Phil und lacht. "Du hast uns allen ganz schön viele Nerven gekostet."
"Wie lang war ich denn jetzt weg, wenn du sagst, dass das durch die Narkose kam?"
Papas Gesichtszüge verhärten sich etwas, sein Körper spannt sich an. "Du hast also wirklich alles von vorhin vergessen. Na ja, jedenfalls warst du zwei Tage komplett weg und ungefähr fünf Tage in der Aufwachphase."
"Also eine Woche insgesamt", stelle ich etwas erschrocken fest.
Phil nickt. "Ein Mathegenie bist du immer noch", grinst er.

Wirklich viel hatten die beiden jedoch nicht mehr von mir, denn der Schlaf zerrte an meinem ganzen Körper und zog mich schnell in seinen Bann zurück.

--------

Leider habe ich in meinem Umfeld schon Erfahrungen machen müssen, wie hart die Nachwirkungen der Narkose sein können. Ich wollte das an diesem Punkt jedoch nicht weiter ausführen, weshalb Josefine ihre Umgebung nicht lang als fremd gesehen hat :)

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

Liebe niemandin, bitte verzeih mir. Danke. Tschoe

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt