26 - Ahnungslos

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Ich schnappe erschrocken nach Luft. Erst die schwere Kellertür, die hinter mir ins Schloss fällt, holt mich auf den Boden der Tatsachen. Und sie scheint auch Paula zu helfen, denn langsam bewegen sich ihre Arme.
"Nicht bewegen!", sind gerade die einzigen beiden Wörter, die meinen Mund verlassen können. "Ich..." Ja, ich? Es ist, als hätte ein Tornado soeben alle Erste-Hilfe-Maßnahmen aus meinem Kopf gefegt.
Wären meine Gedanken ein animierter Film, würde an dieser Stelle ein trockener Busch einsam von einem Windzug durch die Wüste getragen werden.
Paula scheint auch nicht vorgehabt zu haben, sich großartig zu bewegen. Ruhig liegt sie vor der Treppe und blinzelt vor sich hin.
"Ich...", beginne ich erneut und taste panisch nach meinem Handy. Meine Hosentaschen sind leer. Mein Handy. Wo habe ich das hingelegt, nachdem ich Paula nicht erreichen konnte? Ich zittere am ganzen Körper, habe die Angst im Nacken, dass Paulas Kopf jeden Moment zur Seite kippt und sie nicht mehr bei Bewusstsein ist.
"Ich hole Hilfe", bringe ich nach großem Kampf heraus, drehe mich um und springe die paar Stufen wieder hoch.

Im Flur renne ich Toni in die Arme. "Toni, dich schickt der Himmel", begrüße ich ihn mit bebender Stimme.
Er hebt eine Augenbraue. "Der Himmel? Falls du mir wieder Fragen stellen möchtest - keine Zeit, sorry, muss lernen. Und außerdem..."
Ich unterbreche ihn mit einer unwirschen Handbewegung. "Paula."
"Paula? Paula was?" Tonis Aufmerksamkeit fährt scheinbar hoch.
Ich nicke Richtung Keller. "Ich weiß nicht. Sie ist die Treppe runtergefallen oder so. Sie liegt da und..."
Er lässt mich nicht ausreden, sondern schiebt sich alarmiert an mir vorbei. Ich eile ihm hinterher, kann jedoch kaum mit seiner Schnelligkeit mithalten.

Lautstark poltert er die Treppe runter und kniet sich sofort an Paulas Kopf. Mit einer Hand zieht er sein Handy aus der Hosentasche und wirft es mir einfach zu.
Bei dem Versuch, es auf der Treppe stehend aufzufangen, stoße ich mit meiner Hand schmerzhaft gegen die Wand. Doch das Handy, welches ich tatsächlich packen konnte, lässt diesen verschwimmen.
"Notruf absetzen. Sie ist bewusstlos", sagt er knapp, ehe er Paula über das Brustbein reibt. "Hey, Paula, Augen auf!"
Ich starre kurz auf diese unwirkliche Szene, ehe ich mich losreißen kann.

Mit staubtrockenem Mund probiere ich, dem Typen in der Leitstelle alles zu erklären.
"Ich weiß es nicht!", wiederhole ich zum fünften Mal meine Antwort auf die Frage, was denn passiert sei. "Vielleicht die Treppe runtergefallen? Keine Ahnung, ich war nicht dabei."
Zitternd fahre ich mir durch die Haare und starre auf den Couchtisch, auf dem ein Buch liegt. Das Buch, welches Paula gerade liest.
"Du musst dich beruhigen. Die Einsatzkräfte sind gleich bei dir", redet er auf mich ein. Auch nicht zum ersten Mal. Und der Fakt, dass sie gleich da sind, macht die Sache auch nicht besser. Ich sehe jetzt schon vor mir, wie Papa und Alex ins Haus stolzieren.
"Dein Bruder hat Ahnung, sagst du?", hinterfragt er. Unnötig. Absolut unnötig.
"Habe ich doch gesagt. Ja, er ist dabei, Ahnung zu haben", brumme ich. Es ist ein wahrer Kampf, einen halbwegs freundlichen Ton an den Tag zu legen. Meine Gedanken schweben um Paula.
"Okay, also hat sie ja bereits Hilfe", schlussfolgert er. Unnötig. Wieder absolut unnötig. Mir scheint gerade alles absolut unnötig.
Ein Schweigen entsteht zwischen uns.

"Hallo? Alles okay bei dir?", fragt der Leitstellendisponent kurz darauf schon fast panisch.
Ich schnaube. "Natürlich ist alles okay. Deswegen rufe ich Sie ja auch an", antworte ich ironisch.
Er seufzt auf, kommt jedoch zu keinem neuen Gesprächsansatz. "Die Rettungskräfte müssten da sein."
Und genau danach klingelt es auch. Ich lege auf und eile zur Tür. Vor dieser stehen zwei Leute. Eine Notärztin, die ich noch nie gesehen habe. So wie ihren Fahrer, der mir auch unbekannt ist.
"Treppensturz im Keller?", fragt die Notärztin knapp.
Ich nicke das ab und zeige in die Richtung, in die sie gehen.
Keine Minute später brettert auch der RTW mit Signal in unsere Straße. Jacky und Flo springen aus dem Fahrzeug, was mich kurz aufatmen lässt. Es freut mich doch, zwei bekannte Gesichter zu sehen.
"Paula?", fragt Jacky schon von weitem, was ich nicht gern bejahe.

Während Flo an uns vorbeizieht und in den Keller geht, bleibt Jacky kurz bei mir.
"Komm, es wird bestimmt wieder", sagt sie leise und zieht mich in eine Umarmung.
Ich entlaste meine brennenden Augen endlich und lasse meine Tränen raus. Es ist pure Beherrschung, hier nicht ganz ins laute Schluchzen zu verfallen.
Jacky streicht mir über den Rücken. "Alles Gute zum Geburtstag. Was hast du denn bekommen?"
Ich schlucke, probiere, meine Stimme wiederzufinden. "Weiß nicht", flüstere ich und wische mir übers Gesicht. "Die stehen noch auf dem Küchentisch."
Jacky schmunzelt, ehe sich ihre Miene wieder verhärtet. "Setz dich mal ins Wohnzimmer. Ich muss kurz gucken gehen, okay?"

Toni drückt meine Hand und bedeutet mir damit, dass er bei mir ist.
Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie froh ich bin, dass er schon nach Hause gekommen ist. Wäre ich mit dieser Situation allein gewesen, hätte ich nichts garantieren können.
"Sie war wieder bei Bewusstsein, es ist alles gut", wiederholt er leise neben meinem Kopf.
Mir fällt es schwer, seine Worte in der vollen Notaufnahme zu verstehen. Die Patienten, die hier warten, wirken nicht gerade vital bedroht, weshalb ich mich so fehl am Platz fühle. Mit meinen verheulten Augen und meinem gequälten Gesichtsausdruck passe ich gar nicht zwischen diese entspannt wirkenden Patienten.

Als Phil wenige Minuten später völlig aufgelöst aus dem Personalabschnitt gestürmt kommt, rechne ich mit dem Schlimmsten.
"Wo ist Paula?", fragt er in völliger Hektik an Schwester Birgit gewandt, die ihm gerade entgegenkommt.
"Gleich im ersten Schockraum", sagt sie, geht näher an Phil heran und flüstert ihm etwas ins Ohr, was ich nicht verstehen kann. "Aber hey, Phil, es wird schon. Fahr mal runter, sonst liegst du gleich neben ihr", ergänzt sie wieder lauter.
"Fahr mal runter", äfft er sie nach. "Wie soll ich runterfahren? Und was wurde bitte bei ihr gefunden?"
Sie schüttelt schnell den Kopf und übergeht die letzte Frage. Anscheinend war diese nicht für meine Ohren bestimmt. "Auch wegen ihr." Unauffällig, leider nicht unauffällig genug, deutet sie auf mich.
"Scheiße, sie war schon zu Hause?", flucht er.
Ja Phil, ich war schon zu Hause. Siehst du. Und ob das in dieser Situation so scheiße war, bezweifle ich.
Birgit geht an ihm vorbei. Phil fährt sich völlig überfordert durch die Haare, ehe er auf Toni und mich zukommt.
"Alles gut bei euch?", informiert er sich bei uns, obwohl er nur mich im Blick hat.
Ich hebe meine Schultern, lasse sie im nächsten Moment jedoch kraftlos fallen. "Gut ist Ansichtssache."
"Blöde Frage, ich weiß. Gut, dass Toni bei dir ist. Ich würde kurz nach Paula gucken wollen, okay?"
"Dafür bist du ja da", gebe ich nuschelnd von mir.
Sein Kittel nimmt den Windzug mit und unterstreicht auch hier wieder die ganze Dringlichkeit dieser Situation.

Ich dachte schon, dass sich die Zeit ins Unendliche zieht, als Phil doch wieder in den Wartebereich schneit.
Und bei dem Blick in sein Gesicht gefriert mir das Blut in den Adern.
Seine Augen schimmern rot, sind glasig. Sie verraten seine Tränen, die er gerade verschüttet haben muss.
Was um alles in der Welt ist mit Paula?

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt