Ich streiche den dünnen Stoff glatt und greife zur Tube. Allein bei dem Wissen, was ich jetzt tun werde, zittert meine Hand. Zumindest habe ich vor, es zu tun. Ob das klappt, ist dann die andere Frage.
Vor Konzentration öffne ich meinen Mund, während ich mit Daumen und Zeigefinger leicht zudrücke. Noch ein ganz kleines bisschen und dann...
"Verdammt", fluche ich und probiere, den Sekundenkleber noch schnell von meinen Fingern zu wischen. Vergebens.
Alex guckt von seinem Handy auf. "Kommst du klar?", fragt er, bevor sein Blick auf meine Finger fällt. Sein unterdrücktes Lachen klingt wie ein Nieser. "Das Zeug trägt nicht umsonst den Namen Sekundenkleber. Brauchst du dafür nicht eigentlich auch einen anderen Kleber?"
"Ach, sag bloß", erwidere ich gespielt überrascht und probiere, das Taschentuch von meinem Daumen zu ziehen. Es tut sich nichts. Rein gar nichts.
"Da hilft nur noch einweichen", stellt er fest und steht auf.
Doch die Klingel, die in diesem Moment ihr Bestes gibt, kommt seinem Vorhaben dazwischen. "Gleich", vertröstet er mich und schlägt den Weg zum Flur ein.
"Paula?", rufe ich in die Küche.
Von ihr kommt ein Geräusch, welches mir wohl zeigen soll, dass sie mich hört.
"Kannst du mir nachher die paar Steinchen wieder an meinen Turnanzug kleben? Ich bin zu blöd dafür."
"Nach dem Essen, okay?", kommt umgehend ihre Antwort.
"Danke!"Alex kommt wieder ins Wohnzimmer. Mit Begleitung. "Ist für dich", sagt er und deutet auf Simon, der unschlüssig hinter ihm steht.
Überrascht stehe ich auf und gehe auf ihn zu. "Was machst du denn hier?"
Er lächelt mich schüchtern an. "Ich wollte mich mal wieder melden. Also persönlich. Anni meinte, dass du zu Hause bist, weil du mal wieder eine fette Erkältung hast. Und da dachte ich, dass ich dir einen Besuch abstatte. Wie geht es dir?"
"Wieder besser. Ich gehe auch", mein Blick gleitet kurz zu Alex, "wieder in die Schule." Alex ist darüber nicht sehr erfreut. Er würde mich morgen, am Jahrestag, noch immer am liebsten in Watte packen und ans Bett fesseln, damit mir auf gar keinen Fall etwas passieren kann. Dabei könnte ich mich trotzdem noch an meiner eigenen Spucke verschlucken und ersticken.
"Schöne Ferien waren das letzte Woche für dich dann eher nicht, schätze ich."
Ich winke ab. "Winterferien. Was soll man in der einen Woche auch großartig machen." Mir hat das ehrlich nicht viel ausgemacht, dass ich genau in den Ferien krank war.
"Wollt ihr nicht in dein Zimmer gehen?", fragt Alex, bevor noch einer etwas sagen kann.
"Ouh." Ich hole tief Luft. "Wir stören da wohl jemanden."Simon lässt sich auf mein Bett fallen. "Tut mir leid, dass ich mich nicht mehr bei dir gemeldet habe. Aber irgendwie..."
"Du musst dich nicht entschuldigen", unterbreche ich ihn. "Eigentlich wollte ich mich bei dir melden, aber irgendwie habe ich das ehrlich gesagt aus den Augen verloren." Ich suche mein Zimmer kurz ab und werde schnell fündig. Die kleine Kiste mit den Barbies, die ich extra für seine kleine Schwester gesucht habe, steht noch immer in einer Ecke und hat inzwischen eine dünne Staubschicht auf dem Deckel.
Simon hebt eine Augenbraue und guckt mir skeptisch in die Augen. "Das klingt ernst", beschließt er. Und ich merke sofort, dass er nicht locker lassen wird, ehe ich mit der Sprache rausrücke.
"Ich..." Mein Gehirn arbeitet. "...Brauche schnell noch eine Schüssel mit Seife", sage ich schnell und drehe mich um.
"Hä?"
Ich winke ihm mit meiner linken Hand zu, an der ein Stück Taschentuch klebt. "Sekundenkleber", wende ich mich schief grinsend an ihn und flüchte danach aus meinem Zimmer. Ich hatte nicht vor, jetzt wieder von meiner Mutter anzufangen. Das alles nochmal zu erzählen, obwohl es da kaum etwas gab, was ich erzählen könnte. Weil mir keiner etwas sagen möchte. Und irgendwie ist das der Punkt, der am meisten wehtut."Alles okay mit dir?" Paula ist gerade dabei, den Tisch zu decken, als ich in die Küche komme.
"Was soll sein?", stelle ich eine Gegenfrage, suche mir eine kleine Schüssel raus und fülle sie mit warmem Wasser.
"Du wirkst plötzlich so angespannt."
Von mir kommt keine Antwort, was Paula einfach so hinnimmt. "Isst Simon mit? Das Essen wäre jetzt fertig", lenkt sie das Thema einfach um. Einer der vielen Punkte, die ich an Paula so ungemein schätze.
"Ich denke schon. Eher unwahrscheinlich, dass er sofort wieder abhaut", sage ich und stelle die Schüssel auf den Esstisch an meinen Platz. "Ich hole ihn schnell."
"Und Toni bitte auch", erinnert mich Paula schmunzelnd.
Den habe ich beinahe vergessen.Das Besteck klappert auf den Tellern. Meine rechte Hand führt die Gabel, während ich mit links in der Schüssel hänge.
Dunkle Wolken hängen tief am Himmel. Sie sehen schwer aus, als würden sie bald unter irgendeiner Last nachgeben.
Das tun sie auch, doch es ist ungewiss, wie lang sie noch durchhalten.
In letzter Zeit fühle ich mich manchmal so. Wie lang halte ich noch aus, immer wieder abserviert zu werden, wenn es um meine Mutter geht? Wie oft kann ich noch geradewegs gegen eine Wand rennen und den Dämpfer aushalten?
Ich merke, wie ich mich gerade beinahe in Selbstmitleid stürze. Die dunklen, beinahe schwarzen Wolken verkörpern geradezu mein Pech, welches mich seit fast einem Jahr auf Schritt und Tritt verfolgt. Es ist, als würden diese Wolken permanent über meinem Kopf schweben. Mal leichter, mal schwerer. Mal heller, mal dunkler. Mal halten sie allem stand und wenden manches sogar ab, mal bricht alles aus ihnen heraus und ergießt sich über mich.
Wird das nach dem einen Jahr wirklich weniger?Meine Konzentration liegt überall, nur nicht beim Essen, sodass ich kaum merke, wie die gerade aufgespießte Nudel von meiner Gabel fällt. Direkt auf mein weißes Oberteil. Das Rot der Tomatensoße sticht schön heraus. Wunderschön.
Ich stöhne genervt auf und hebe die Nudel von meinem Schoß.
"Ich sag's dir, das ist nur der Anfang", warnt Alex mich in völlig ernstem Ton.
"Alex, ich habe mich gerade nur bekleckert", erwidere ich leicht nervös. Denkt er, mir behagt der Gedanke an morgen? Ganz und gar nicht.
Simons Blick ist verwirrt, doch er fragt nicht nach.
Und Paula schüttelt nur den Kopf.Meine Gedanken rasen so schnell hin und her, wie die Regentropfen aus den Wolken fallen. Das gleichmäßige Prasseln auf dem Fensterbrett beruhigt mich immer, doch heute wühlt es mich nur noch mehr auf.
"Was ist los mit dir?" Simon rückt näher an mich heran.
"Nichts. Sag mir lieber, wie es bei dir und Daniel läuft."
Er seufzt, geht dann aber auf meine Frage ein. "Super. Wie geht es Anni damit?"
"Besser als erwartet", gebe ich zu. "Ich dachte, dass sie zu einem richtigen Problem werden könnte. Aber sie hat das irgendwie locker weggesteckt und freut sich für euch."
"Und bei dir?", kommt Simon wieder auf meine Wenigkeit zu sprechen.
"Was bei mir?"
Man könnte meinen, dass ich nicht antworten will. Doch ich weiß gerade wirklich nicht, worauf diese Frage bezogen ist.
Nervös wippe ich mit meinen Beinen, die ich auf meinem Bett zu einem Schneidersitz verknotet habe.
"Na wie das bei dir so läuft. Mit Jungs. Oder so generell im Leben", präzisiert er seine Frage.
Sie dringt nur schwer zu mir durch. Zu voll ist mein Kopf voller anderer Gedanken.
Was kann morgen passieren? Was kann ich machen, um jeglichen Dingen aus dem Weg zu gehen? Wie muss ich meinen Tag gestalten? In welchen Situationen herrschen potentielle Gefahren, die mir zum Verhängnis werden könnten?
"Fine?"
"Mh?" Mein Blick löst sich von meinem regenbenetzten Fenster und starrt Simon an.
"Ich habe dich gerade etwas gefragt."
"Ach so, ja... nee, da gibt es nichts, was erwähnenswert ist", stottere ich zusammen.
"Du kannst mir nicht erzählen, dass du nicht nervös bist. Was ist los?", hakt er erneut nach.
"Es ist nichts", versichere auch ich nicht zum ersten Mal.
Doch eigentlich fühle ich mich, als würde ich direkt auf die nächste schwarze Wolke zusteuern. Und es gibt kein Hindernis mehr.-----------
Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)
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7 Jahre Pech (Asds) |2/2|
Fanfiction|2/2| ~Der zweite Teil von '7 Jahre Pech'. Um die Zusammenhänge verstehen zu können, ist es notwendig, den ersten Teil gelesen zu haben.~ Josefine hat das erste Jahr Pech nach ihrem Spiegelunglück überstanden - wenn auch ziemlich chaotisch. Doch m...