92 - Stehendes Schicksal

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Papas erster Weg führt nach oben, während ich mich von leisen Geräuschen in die Küche leiten lasse.
In dieser steht Alex, der aus einer Glaskanne kalten Tee in drei Gläser gießt. Eines davon reicht er mir, während er mich mit einem stolz wirkenden Lächeln anguckt.
„Ja, du hast starke Arbeit außerhalb deines Dienstes geleistet, du kannst sehr stolz auf dich sein", kommentiere ich leicht augenverdrehend, dennoch schmunzelnd, und nehme einen Schluck. Erst jetzt merke ich, wie sehr ich das gebraucht habe.
Alex schnalzt mit der Zunge. „Dieses äußerst stolze Lächeln gilt nicht mir, es ist für dich." Er gibt mir einen sanften Klaps auf den Hinterkopf, ehe er mich in seine Arme zieht. „Ich habe schon bei mehreren Geburten geholfen. Klar, es war etwas besonderes, immerhin hat unsere Familie Zuwachs bekommen und es ist immer etwas anderes, auch emotional an einer Sache zu hängen, aber ich bin auf dich unfassbar stolz."
Alex lässt mich nach einem letzten, besonders starken Drücken wieder los und guckt mir in die Augen. „Ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, was in dir vorgegangen sein muss. Und du hast trotzdem absolut richtig gehandelt und warst da, als man dich gebraucht hat."
Sein Lächeln ist so unfassbar aufrichtig und strahlend, dass ich erneut kurz davor bin, eine Träne zu verdrücken. „Ach, hör doch auf." Zitternd lache ich und mache dabei eine wegwischende Handbewegung. „Ich habe getan, was ich konnte, nicht mehr und nicht weniger."
Seufzend schüttelt Alex den Kopf, verliert bei dieser Bewegung jedoch keinesfalls sein Lächeln, welches nun wohl in Stein gemeißelt ist. Es sieht aus, als würde es nie wieder verschwinden. „Irgendwann wirst du merken, wie stark du bist. Und bis dahin werde ich nicht müde, es dir jedes einzelne Mal vorzutanzen."

Sie sind gesund. Paula und Louisa. Beide sind wohlauf und auch Phil scheint wieder voll auf seinen Beinen zu sein.
„Na ja", Paula lacht am anderen Ende der Leitung auf, „bis auf den Fakt, dass Phil schon seit einer Stunde wie ein Stein schläft, scheint er wieder auf den Beinen zu sein."
„Dabei solltest eigentlich du völlig fertig sein", sage ich, wenig überrascht darüber, dass sogar Paula die Geburt besser wegsteckt als Phil.
„Bin ich auch", antwortet sie ohne Umschweife. „Aber ich bin auch so überwältigt von Glück, dass ich gerade gar nicht einschlafen könnte. Also wenn ihr wollt – unsere Stationstür steht euch offen."
Das hatten wir uns nicht zweimal sagen lassen und sind direkt zur frischgebackenen kleinen Familie ins Krankenhaus gefahren.

Zwei Tage später habe ich das alles langsam verdaut. Die Ruhe ist vorerst in das Haus zurückgekehrt und die Vorfreude auf Louisa steigt. Vor allem Papa ist hin und weg von dem Gedanken, wieder ein kleines Baby in seinem Umfeld zu haben.
„Meinst du, ich kann heute Paula und Phil besuchen gehen?" Mit dem Kopf auf meine Hand gestützt sitze ich am Küchentisch. Der Teller vor mir hat nur noch die letzten Krümel von meinem gerade gegessenen Frühstück drauf.
„Warum nicht", antwortet Alex. „Die beiden freuen sich darüber. Ich kann dich gern am Krankenhaus absetzen, wenn ich zur Arbeit fahre."
Motiviert stehe ich auf und stelle unsere Teller in die Spülmaschine. „Das klingt zu verlockend, um das Angebot abzulehnen."
Alex gibt ein beinahe grunzendes Geräusch von sich. „Du bist echt zu verwöhnt."
Verärgert ziehe ich meine Augenbrauen zusammen. „Ihr habt mich eben schon immer lieber gefahren, weil ihr euch sonst zu große Sorgen gemacht hättet", erwidere ich wahrheitsgemäß.
„So kann man das natürlich auch drehen." Alex' Grinsen wird breiter. „Fünf vor zehn an meinem Auto, ja?"
Ich nicke zufrieden und gehe nach oben, um mich fertig zu machen.

Schnell finde ich mich im Klinikgebäude wieder und gehe zielstrebig auf den Fahrstuhl zu, der kurz darauf da ist.
Mit großer Vorfreude, vor allem auf Louisa, drücke ich die fünf. Mein Mund verzieht sich unwillkürlich zu einem Lächeln.
Im ersten Stock bleibt der Fahrstuhl stehen, öffnet die Türen und – mein Lächeln erstarrt.
„Oh, äh... was ein Zufall." Adrian macht einen kleinen Schritt nach vorn, dreht sich dann jedoch unsicher um und blickt zur Tür des Treppenhauses. Es wirkt, als würde er überlegen, ob er nicht doch spontan die Treppen benutzen sollte.
Automatisch mache ich kleine Schritte nach hinten, das Bedürfnis im Nacken, so viel Abstand wie möglich zu ihm aufzubauen.
„Was machst du denn hier?", frage ich, völlig unnötig von der Überforderung gesteuert.
Nun doch etwas entschlossen macht er einen letzten Schritt nach vorn, um den Fahrstuhl zu betreten. Er zeigt mit einer ausladenden Bewegung an sich herunter. „Tatsächlich arbeiten." Er drückt die vier.
Die nächsten Sekunden lasten schwer auf meinem Körper. Es ist, als würde die Luft von Sekunde zu Sekunde dicker werden.
„Wie geht es Paula und Louisa?", fragt er da völlig unvermittelt.
Zweites Stockwerk. Nur noch zwei Etagen.
„Sehr gut, danke der Nachfrage." Ich nicke mit einem unbeholfenen Lächeln, traue mich kaum, meinen Blick zu ihm zu heben.
Drittes Stockwerk. Nur noch eine Etage.
„Das ist schön."
Ja, das ist schön.
Ein plötzlicher Ruck geht durch unsere Körper.
Erwartungsvoll gucke ich zur Anzeige. Drei. Es steht dort immer noch eine drei. Und die Zahl ändert sich nicht. Wir stehen.
Nun geht mein Blick doch zu Adrian, gesteuert vom Hauch einer Angst.
Seine Stirn liegt in Falten. Er dreht sich von mir weg, guckt zur Tür, drückt einen Knopf. Nichts passiert.
Und nachdem sich auch in den folgenden Sekunden nichts bewegt, nichts ruckelt, nichts ändert, wird uns wohl beiden klar, dass wir feststecken.
Ich stecke mit Adrian in einem Aufzug fest.

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Ich wünsche euch frohe Ostern :)

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt