71 - Tausend Tickets

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"Was soll das?" Völlig außer Atem drehe ich mich zu Anni um, die sich mit verschränkten Armen bereit macht. Bereit für eine Diskussion, die mir jeden Moment den Hals...

"Ist das widerlich", stöhne ich halb in meine Haare, die mir am Mund kleben. Der nun herrschende saure Geruch lässt mich erneut würgen, doch diesmal ist meine Beherrschung größer.
Eine Diskussion, die mir wortwörtlich den Hals hochkommt. Und dabei hat diese nicht einmal begonnen. Welch tolle Aussichten.
Brummend richte ich mich auf, probiere krampfhaft, meinen Blick auf Anni zu fokussieren, die seltsame Bewegungen mit ihrem ganzen Körper macht. Hin und her, vor und zurück, ein paar Drehungen - da wird mir allein beim Zugucken ganz schwummerig.
"Nochmal", ich schlucke, würge, huste, schlucke erneut, "was sollte das gerade? Warum musst du mir diesen Abend versauen?" Blinzelnd gebe ich jegliche Mühe auf und schließe lieber meine Augen. Nicht die beste Lösung, wie sich direkt im nächsten Moment herausstellt.
"Sag mal..." Der Boden unter meinen Händen ist steinig und kalt, doch irgendwie beruhigend. Und so schön still. "Heißt es in Filmen und Büchern nicht eigentlich immer, dass beste Freundinnen einem die Haare halten, wenn man sich übergeben muss?" Wieder dieser unendlich ekelhafte Reiz, meinen Mageninhalt einmal auf große Fahrt zu schicken. "Sieht man ja, wie das klappt", nuschle ich gerade noch so, ehe angekündigter Inhalt sein Ticket löst.
Im Hintergrund geht Annis verwaschene Stimme im Würgen unter. Interessiert mich sowieso die Bohne, was sie zu sagen hat.

Die Kälte frisst sich durch meine Hose und beschert mir eine Gänsehaut am ganzen Körper. Auslöser für meine wirklich geistreiche Idee. Eine Idee, die mir nichtsahnend das Licht ausknipst.

"C2-Abusus."
"Warte. 17 Jahre?"
"So ungefähr?"
"Diese Jugend, das wird immer-"
"Wincent!"
"Tut mir leid, tut mir leid."
"Sag lieber, was wir machen sollen."
"Was ist mit der da?"
"Mit wem?"
"Das Mädchen dahinten. Sieht ziemlich verstört aus."
"Vielleicht die Freundin."
"Möglich. Und jetzt?"
"Abwarten."

Zusammenhangslose Sätze, die erbarmungslos auf mein Gehirn eintrampeln. Mein Gehirn, welches sich so schon wie zertrümmert anfühlt.
Und dann diese Sirenen, die mir beinahe meinen Gehörgang zerfetzen. Immerhin verschlucken sie diesen wirren Wortwechsel.
Die Kirsche auf der Sahne bleibt jedoch diese unbändige Übelkeit.

Francos Sicht

"Warte kurz hier. Genau hier. Bewege dich bloß keinen Schritt weiter." Jacky tätschelt meine Schultern, zuckt mit ihren Mundwinkeln und dreht sich um.
Der Zopf wackelt bei ihrer Geschwindigkeit im entstandenen Wind, auf halbem Weg verliert sie auch noch einen ihrer Schuhe.
"Tja, auch Haix mit Reißverschluss kannst du fester machen. Oder einfach gleich schließen", rufe ich ihr verwirrt hinterher. Von Jacky kommt ein kurzes Abwinken, ehe sie im Gang verschwindet.
Seufzend drehe ich mich um, kann meine Verwirrtheit nicht unterdrücken. "Was ist mit ihr? Warum ist sie so energiegeladen, obwohl sie gerade zwölf Stunden Schicht hinter sich hat?"
"Keinen einzigen Einsatz hatte die junge Dame", grinst Flo. "Da bleibt viel Zeit zum Entspannen."
Mir klappt die Kinnlade runter. "Wie jetzt - eine Nullschicht? Ehrlich?"
Flos mitleidiges Nicken sagt mehr als tausend Worte. Wir wissen alle, was nun auf uns zukommt.
"Oh nein", stöhnt Dustin mit Betreten des Aufenthaltsraumes. "Bitte sag, dass ihr mich verarschen wollt. Keine Nullschicht."
"Tut mir leid, Kumpel." - Es tut Flo keineswegs leid.

Jacky braucht keine zwei Minuten für ihr mysteriöses Vorhaben. Eine dampfende Kaffeekanne ist das Ergebnis, welche sie mir mit einem fetten Grinsen in die Hände drückt.
"Verbrennt euch nicht, ihr werdet die Nacht gut gebraucht. So, wie ihr den Kaffee gut gebrauchen könnt. Na dann, ich wünsch euch was." Kichernd klatscht sie mit Flo ab, die Dustin und mich daraufhin wie zwei begossene Pudel mitten im Aufenthaltsraum stehen lassen.
"Das kann was werden", murre ich. "Da ist man einmal so freundlich und springt ein. Der Dank fällt einem gleich vor die Füße. Leider wurde der Warnhinweis 'Achtung, nicht stolpern!' vergessen."
Als ich dann auch noch Dustins Grunzen höre, der vergeblich probiert, nicht in Gelächter zu verfallen, hat sich meine Laune ohne Umwege das letzte Ticket zur Hölle gesichert.

"Ich schwöre dir", warnend hebe ich meine Hand, "noch ein kotzender Jugendlicher, der meint, diesen Abend einen über den Durst trinken zu müssen und daraufhin auf unschlagbare Ideen kommt, und ich kündige."
Dustin lässt sich auf die Couch fallen und guckt mich schräg an. Seine bereitgelegte Antwort, die ihm gerade über die Lippen kommen will, wird vom schrillen Piepen der Melder unterdrückt.
Und schon nach einem Blick hätte ich diesen ohne Umschweife gegen die Wand pfeffern können.
"Tja, da kannst du deine Kündigung wohl schon mal im Kopf formulieren", kommentiert Dustin. "Aber bitte mit Begründung."

Im Nachhinein wäre eine Kündigung wohl wirklich die schönste Lösung gewesen - nur wäre diese sowieso zu spät gekommen.

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Lang ist es her, aber hier ist ein neues Kapitel :)

An dieser Stelle will ich irgendwie nochmal niemandin danken - würde es sie nicht geben, hätte ich diese Geschichte schon lange an den Nagel gehängt. Und das würde mich irgendwie traurig machen, nach all der Zeit und Mühe, die ich in diese Geschichte investiert habe.

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt