36 - Selbstvorwürfe bringen keine Wunder

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Francos Sicht

Meine Beine fühlen sich an, als würden sie jeden Moment unter mir nachgeben.
Alex beginnt schon beim Gehen mit der Übergabe an Charlotte, während Phil wie versteinert mitten im Wartebereich stehenbleibt.
Verzweifelt halte ich mich am Empfang fest, klammere mich beinahe an die glatte Fläche, als würde sie mir versichern können, dass meine Tochter wieder vollständig gesund wird.
Alex' Stimme zittert beim Reden. Er klingt nicht mehr wie der professionelle Arzt, der nach diesem Fall vielleicht einfach nur kurz durchatmen muss. Wie sollte er das auch können.
Er verhaspelt sich, muss schlucken, vergisst für uns alltägliche Begriffe, bis seine Stimme für mich gänzlich verschwimmt.
Ich verfluche meinen Job in solchen Momenten. Warum ist das Leben so ungerecht?

Meine Gedanken schreien mich an, wollen mich zerreißen. Fragen, die ich mir nie hätte stellen sollen, tauchen in mir auf und verlangen Antworten. Fragen, auf die keiner Antworten geben möchte. Fragen, die nicht allein zeigen können, wie absurd und trotzdem real dieser Abend ist.

Auch wenn ich meine Augen schließe, wird der Schwindel in mir nicht besser. Josefines Körper erscheint vor meinen Augen. Intubiert. Der linke Arm völlig verdreht, die Platzwunde am Kopf. Ihre geschlossenen Augen, die ihren schlechten Zustand unterstrichen haben.

Erst muss ich Angst um meinen Sohn haben, die noch immer nicht verflogen ist, dann kommt das hinzu. Ich wusste, dass Angst schmerzhaft sein kann. Dass sie einen auffressen kann. Aber dass sie sich zu einer tickenden Zeitbombe verwandeln kann, erfahre ich jetzt erst.
Unter der großen Decke voller Angst und Ungewissheit kommt ein weiteres Gefühl hinzu. Unglaublich große Wut. Wut, die ich noch nie in diesem Ausmaß verspürt habe. Wut auf mich, dass ich nicht auf Alex gehört habe, Wut auf die Jungs, die für ihren Unfall verantwortlich sind. Wut auf diese ganze, beschissene Welt.

Durch Phils Hand spüre ich, dass er die letzten Meter zu mir überbrücken konnte. Doch er bleibt still. Sein Mund öffnet sich, ohne überhaupt einen Ton von sich zu geben. Seine Lippen bewegen sich, seine Augen schimmern, doch bei mir kommt kein einziges Wort mehr an.
Zu laut rauschen meine Ohren, zu sehr hängen meine Gedanken im Schockraum.

Mein Körper möchte nicht mehr. Das macht er nicht mehr mit. Die Zeit ist um. Die Angst auf meinen Schultern wird zu schwer.

Phils Sicht

"Franco, was ist passiert?"
Apathisch starrt er mich an, egal, wie laut und deutlich ich rede. Kein Wort scheint ihn zu erreichen.
Schon jetzt spüre ich, dass sich Tränen in meinen Augen bilden, auch wenn ich nicht weiß, was passiert ist. Vielleicht gerade deswegen.
Wir mussten das schon mal durchmachen, bitte kein zweites Mal.

Das Gefühl, als ich derjenige war, der Josefine intubieren musste, kehrt zurück. Diesmal war es Alex, und ich sollte eigentlich nicht wissen, wie er sich gefühlt haben muss. Wie er sich fühlt. Doch leider weiß ich das viel zu gut.

"Hey, Franco!"
Nichts mehr zu machen. Im letzten Moment kann ich ihn unter den Armen greifen und gemeinsam mit ihm zu Boden gehen.
"Franco, verdammt, Fine braucht dich doch jetzt", murmle ich nervös und haue ihm leicht auf die Wange, die mir unnatürlich warm vorkommt. Vielleicht liegt das auch an mir, denn ich schwitze, als wäre die Temperatur von jetzt auf gleich um zehn Grad gestiegen.
"Franco!" Nichts.

Jacky kommt aus dem Schockraum, gefolgt von Alex und Flo. Alle drei haben keine Farbe im Gesicht, sehen aus, als hätten sie drei Nächte durchgemacht.
Flos Reaktion ist am schnellsten. Er kniet sich zu mir und hilft mir dabei, Franco wenigstens auf den nächstbesten Sitzplatz zu heben.

Ich reibe ihm über sein Brustbein, worauf er zu aller Erleichterung auch reagiert, doch seine Reaktion fällt sporadisch aus. Seine Lider flackern, er grummelt unverständlich.
"Franco, verdammt, mach jetzt deine scheiß Augen auf!", schreie ich ihn an, schalte meine Umgebung aus. Die teilweise schockierten Blicke der wartenden Patienten sind mir egal. Warum hätte nicht wirklich eine einfache Schnittverletzung kommen können, die nur kurz hätte genäht werden müssen?

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt