58 - So nah und doch so fern

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Papa hört still zu, doch ich merke, wie er sich immer mehr anspannt.
„Paul, ich-" Sein Blick fokussiert mich. „Ja, bin unterwegs."

Mein Herz rast. Es pocht mir bis in den Hals und löst unangenehme Wellen in mir aus. In einem Versuch schlucke ich die Befürchtungen runter, doch sie kommen mir in der nächsten Sekunde schmerzhaft wieder hoch.
Eine Hitzewelle packt mich, das Zittern übermannt mich dennoch. „Was ist?", frage ich mit einer Stimme, die deutlich macht, wie sehr die Angst in mir wütet.
„Ben wurde in die Klinik eingeliefert. Er ... irgendwas mit Toni." Sein Gesicht nimmt verwirrte Züge an, die seine Sorge nur umranden. Aufgewühlt fährt er sich durch die Haare, ehe er aus meinem Bett springt. „Ich muss zur Klinik. Paul möchte mit mir reden. Und mit Ben."

„Ich komme mit", beschließe ich, ohne darüber nachzudenken. Nach meinem viel zu schnellen Sprung aus dem Bett dreht sich alles, jedoch ist mein inneres Chaos deutlich tobender als mein Kreislauf, der unbedeutend seine Hand zum Einwand hebt.
„Nein, du bleibst hier", sagt Papa bestimmend, während er mein Zimmer verlässt und in sein Schlafzimmer geht.
Mit großen Schritten folge ich ihm. „Ich komme mit. Es geht um Toni, verdammt!" Allein bei dem leisesten Gedanken daran, dass es irgendwelche Spuren zu Toni geben könnte, wird mir ganz schwindelig. Auch meine Beine fühlen sich nicht mehr ganz so vertrauenswürdig an, doch irgendeine enorme Kraft hält mich aufrecht. Und sie sagt mir, dass ich keine Widerrede dulden lassen soll. „Mir ist es gerade so egal, was du für richtig hältst!"
Lauter als beabsichtigt schlägt Papas Schranktür zu, aus der er sich eine Jeans genommen hat, in die er sich zitternd quält. „Noch lauter und es sind gleich alle wach."
„Sagst du", schnaube ich wütend. Jegliche Gefühle gehen mit mir durch, vermischen sich, bilden eine tickende Zeitbombe. „Und außerdem sollten doch alle direkt davon etwas erfahren!"
„Wovon etwas erfahren?", höre ich plötzlich Alex hinter mir. Seine Stimme ist verschlafen rau. Also haben wir ihn wirklich geweckt.
Ich drehe mich zu ihm um. „Kann dir Papa erklären. Ich muss mich anziehen."

Schnaufend komme ich am Auto an. Der ewige Mangel an Bewegung zeigt sich mehr als deutlich. Doch auch mein Erfolg zeigt sich mehr als deutlich – ich bin vor Papa unten.
Nebenbei habe ich mitbekommen, dass auch Phil und Paula aufgewacht sind. Was ihnen gesagt wurde und wie sie nun verbleiben, ist mir jedoch nicht bekannt. Soll mir auch egal sein, denn mir schwebt nur eine Sache vor Augen – Toni.
Papa kommt keine Minute später mit Alex nach draußen. Seine Miene sieht nicht wirklich überrascht aus, als er mich sieht, hat er doch schon gemerkt, dass ich mitkommen möchte und mich davon wirklich nichts abbringen kann.
„Paula und Phil bleiben zu Hause. Mich wird nichts daran hindern, sie anzurufen, wenn ich möchte, dass du aus der Klinik verschwindest", bemerkt Papa mahnend, während er den Motor startet.
Mach doch, denke ich mir, lasse das jedoch lieber unkommentiert. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Papa vergisst, dass ich bereits siebzehn und keine zehn mehr bin.

Die Fahrt zur Klinik zieht sich. Die Dunkelheit macht es nicht besser. Sie gibt diesen ganzen Umständen den letzten Feinschliff. Ich fühle mich wie in einem Tunnel, an dessen Ende kein Licht auf mich wartet. Der nur immer weiter in die Tiefe führt, von bewölkt zu schwarz wechselt und mit der Tiefe auch an Schrecklichkeit zunimmt. Lange halte ich das definitiv nicht mehr aus, das wird mir schon sehr schnell bewusst.
Nervös kaue ich mir auf der Unterlippe herum und schmecke bald darauf den metallischen Hauch, der sich in meinem Mund ausbreitet. Am Kauen hindert mich das jedoch nicht. Nicht mal der Anflug eines Schmerzes macht sich bemerkbar. Ich fühle mich betäubt, kann keine klaren Gedanken mehr fassen. Auch die Laternen, die mit zu schneller Geschwindigkeit an den Fenstern vorbeiziehen, versprechen mir keinerlei Lichtblicke. Sie sind eher die Tentakeln des dunklen Tunnels, die uns scheinheilig anlachen, um nur Momente später ihre Tarnung abzulegen und uns den Abgrund zu zeigen.

Papa hat nicht mal den Schlüssel gezogen, da landen meine Füße auf dem vom Regen benetzten Asphalt. Der Regen war stark, hatte jedoch schon vor einer halben Stunde aufgehört. Nun erinnern nur noch die glitzernde Straße und die schimmernden Pfützen an das Wetter, welches meine Gefühle wohl am ehesten beschreiben könnte.
„Fine, immer mit der Ruhe." Alex packt mich am Arm und hält mich auf.
„Immer mit der Ruhe?" Ich funkle ihn an. „Ich gebe dir gleich ‚Immer mit der Ruhe'!"
Alex' Griff wird stärker. Er möchte mich damit besänftigen, doch in seinen dunklen Augen sehe ich, wie auch mit ihm jeden Moment alles durchgehen könnte. Er möchte für mich Ruhe bewahren, für Papa. Möchte mir kein schlechtes Vorbild sein.

Vor dem Eingang der Notaufnahme wartet Paul bereits auf uns. Neben ihm steht Marc, der gerade mit irgendjemandem angeregten Kontakt über Funk führt.
„Gut, dass ihr so schnell kommen konntet", sagt Paul mit Blick zu Alex und Papa, ehe er mich anguckt. Seine Miene verzieht sich. „Wäre es für dich nicht besser gewesen, zu Hause zu bleiben?"
„Nein verdammt!" Ich schnaube. „Warum denkt ihr das denn alle die ganze Zeit? Nein, nein und nochmal nein!"
„Okay, beruhige dich, Fine." Beschwichtigend hebt Paul seine Hände. Nur schwer gelingt es mir, meine Atmung wieder etwas herunterzufahren.

„Was ist jetzt Stand der Dinge?", möchte Papa wissen.
Ich stehe zwischen Papa und Alex, Alex hat noch immer meinen Arm in seiner Hand, und weiß eigentlich gar nichts. Keiner wird unwissender sein als ich.
„Also", Paul nimmt sein Notizbuch hervor, „Marc kümmert sich gerade darum, dass Bens Eltern informiert werden. Was Ben betrifft..." Falten bilden sich auf seiner Stirn. Sein Blick verdunkelt sich. „Er wurde von einem Passanten in einer abgelegenen Straße gefunden. Wir wurden informiert. Man muss kein Experte sein, um zu sehen, dass er brutal zusammengeschlagen wurde. Täter konnten wir leider keine ausfindig machen und uns ist bis jetzt noch absolut schleierhaft, was sich da abgespielt haben könnte. Und jetzt kommt Toni ins Spiel." Besorgt huscht Pauls Blick zu mir. Ich verstehe momentan nur Bahnhof, kann keine Verknüpfungen herstellen. Schon gar nicht, wie sie nun auf Hinweise bezüglich Toni kommen wollen.
Auch wenn Paul nicht zufrieden aussieht, fährt er fort. „Bens Zustand wurde als eher kritisch eingestuft. Er hat kaum ein Wort gesprochen. Nur immer wieder Toni gemurmelt. Auf mehrfacher Nachfrage hat er gesagt, dass er wohl ganz in der Nähe sein soll. Sollte. Wir haben uns auf die Suche gemacht, konnten jedoch keinen finden."

Ich gucke unsicher zu Papa. Seine Miene ist wie versteinert. Generell starrt er Paul an, als wäre er zu einer Salzsäule erstarrt. Auch wenn ich ihn jetzt antippen würde, könnte eine Reaktion ausfallen.

Dieser Zustand wird schneller unterbrochen, als ich gedacht hätte. Das höllisch hohe Quietschen einer Bremse. Ein lautes Hupen, welches beinahe den Himmel zerreißt. Der helle und gleichzeitig doch so raue Schrei einer Person.  

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt