29 - Achtgeben ist nicht immer leicht

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Auch wenn Phil anscheinend noch weniger Schlaf hatte als ich, sieht er am Morgen um einiges frischer aus.
"Alles gut?", fragt er mich leicht lächelnd, was ich mit einem Nicken beantworte.
"Muss ja irgendwie", nuschele ich und beiße lustlos in das Brot, welches mir vor die Nase gestellt wurde. Immerhin hat Phil mitgedacht und mir somit zehn Minuten mehr Schlaf geschenkt.
"Wird schon. Essen für die Schule steht hier", er deutet auf die Büchse neben dem Kühlschrank, "und Trinken weißt du ja. Pass auf dich auf und achte auf dich, ich muss los zur Arbeit."
Ich gucke zu ihm hoch und bringe ein leises Danke über die Lippen. Irgendwie sehe ich in Phil plötzlich eine Vaterrolle. Er sollte sich die nächsten Monate eher ausruhen, Vater ist er schneller, als er gucken kann.
Schulterzuckend richte ich meinen Blick wieder auf den weißen Teller vor mir, atme tief durch und zähle die Brotkrümel. Obwohl - keine gute Idee, davon werde ich noch müder.

"Fine?"
Langsam trotte ich auf die Schule zu.
"Josefine?"
Ich gähne. Der erste Block hat nicht mal begonnen und ich freue mich schon auf das letzte Klingeln. Und dann... Ja, dann schmeiße ich mich...
"Aah!" Schreiend zucke ich zusammen und spüre mein Herz doppelt so schnell schlagen. "Spinnst du?", pflaume ich Anni an. "Du kannst mich doch nicht so erschrecken."
Ich lege mir automatisch meine Hand aufs Herz und hole tief Luft.
"Ist ja nicht so, dass ich dich zweimal gerufen habe. Nein." Sie schüttelt ihren Kopf extra doll und fuchtelt mit ihren Händen vor meinem Gesicht. "Erde an Josefine, alles okay bei dir?"
Ich haue ihre Hände eher kraftlos zur Seite. "Möchtest du, dass ich hier gleich hinfliege?"
"Wow, mit dir ist heute echt nicht gut Kirschen essen", stellt sie fest und bedenkt mich mit einem überraschten Blick.
"Phil hat gesagt, dass ich auf mich aufpassen soll", wende ich ab und straffe meine Schultern. "Also sollte ich nicht hinfliegen."
Anni lacht auf. "Sagen die das nicht immer?" Sie macht zwei größere Schritte, ist vor mir an der Tür und öffnet sie für uns.
Ich halte kurz inne und überlege. "Eigentlich sagt Phil das fast nie zu mir", stelle ich verwundert fest.
"Wow", Anni nickt mit respektvoller Miene, "und das von einem Arzt."
Doch dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. "Er übt", stelle ich fest und lasse das mehrere Male durch meinen Kopf gehen. Er übt. Aber muss er üben? Er hat keinen unwichtigen Teil zu meiner Erziehung beigetragen. Ich war doch all die Jahre wie ein Kind für ihn, um das er sich gekümmert hat.
"Er übt wofür?" Annis Augenbrauen nehmen wohl die Treppen, so hoch sind sie plötzlich.
Ich kneife meine Augen zusammen. "Keine Sache, die man zwischen Tür und Angel besprechen sollte."
Mit dem Grinsen, welches sich augenblicklich über Annis ganzes Gesicht auszubreiten scheint, ist mir klar, dass ihr alles klar ist. "Sag bloß", quietscht sie aufgeregt und hüpft die letzten Stufen hoch. "Sie sind schwanger?"
"Na ja, Phil eher weniger", gebe ich schief lächelnd zu bedenken.
"Das ist ja, als würdest du ein kleines Geschwisterchen bekommen!" Sie dreht sich zu mir um und wartet, bis auch ich mich die elendigen Stufen hochgeschleppt habe.
"Stimmt." Daran habe ich noch nicht gedacht. "Aber ich werde noch vor seiner Einschulung ausziehen", schiebe ich hinterher und freue mich innerlich gerade mehr darüber, die Treppen geschafft zu haben.

"Du arbeitest wie ein Faultier auf Schlaftabletten", murmelt Anni mir zu.
Verwirrt blicke ich von meinem Arbeitsblatt hoch. "Mh?"
Sie seufzt. "Schlaf nicht gleich ein."
Wäre ich wohl, hätte sie mich nicht angesprochen. Ich werfe einen Blick auf ihre Aufgaben. Oh Gott, viel zu viel geschrieben. Dagegen sieht mein Blatt aus wie frisch gedruckt.
"Na ja, vielleicht wirst du ja in Sport etwas wacher", seufzt Anni und schiebt mir ihr Blatt zu, damit ich abschreiben kann.
"Ich glaube eher, die Uhr wird von einem Faultier auf Schlaftabletten gesteuert", bemerke ich beim Abschreiben relativ trocken. Noch fünfundvierzig Minuten. Große Freude.

Verwirrt huscht mein Blick durch die Halle, bevor ich genervt aufstöhne. Anni springt neben mir jedoch freudig in die Luft. "Das ist doch unser Ding", sagt sie voller Euphorie. "Die eins ist in der Tüte. Besser als Ausdauerlauf."
"Mh", brumme ich. "Kann sein." Die letzten Wochen wurden wir zum Ausdauerlauf verdonnert. Sollten wir heute nicht eigentlich die Leistungskontrolle haben?
"Sag mal, was ist mit dir los?" Sie schiebt sich in mein Sichtfeld und mustert mich kritisch.
"Weiß nicht", seufze ich. "Irgendwie fühle ich mich einfach schlapp und ich bin müde."
"Du bist auch etwas blass", ergänzt Anni und zieht ihre Augenbrauen zusammen, sodass sie ganz die besorgte beste Freundin gibt.
"Wenn ich jetzt noch zugebe, dass mein Kopf etwas drückt, was ist dann?", hinterfrage ich und zwinge mich zu einem Lächeln.
"Was dann ist?" Sie tippt sich nachdenklich gegen das Kinn. "Dann wirst du wohl wieder krank."
Ich grinse. "Medizinstudium mit Bravour bestanden."
"Nein, jetzt ehrlich." Annis Blick verschärft sich. "Wenns nicht geht, dann schalte einen Gang runter. Du sollst auf dich aufpassen, hat Phil heute Morgen erst zu dir gesagt."

Keuchend sinke ich auf der Bank zusammen, stämme meine Hand voller Verzweiflung in meine Seite. Mein Gesicht fühlt sich glühend heiß an, meine Wangen pochen. Jeder Atemzug bringt ein Stechen neuer Intensität mit sich.
Ich bereue die letzten zwanzig Minuten. Die letzte halbe Stunde. Ich hätte vorher aufhören sollen, als ich schon gemerkt habe, dass es nicht mehr wirklich geht.
Achte auf dich.
Mission nicht erfüllt.
"Fine, ich will ja nichts sagen", beginnt Anni ziemlich vorsichtig.
"Dann... halt einfach... deinen Mund", zische ich außer Atem. Ich lehne meinen Kopf an die kühle Wand der Turnhalle, doch das hilft nichts gegen die Schmerzwellen, die meinen Kopf zu durchwälzen scheinen. "Was ist das", fluche ich jämmerlich und kneife meine Augen zusammen.
"Das nennt sich Ausdauerlauf", witzelt Anni ziemlich fehl am Platz.
"Nicht... lustig."
Das Stechen zieht sich zu meinem Magen, zieht nach unten, zieht sich durch meinen ganzen Körper, scheint sich in meinem Unterleib zu sammeln. Warum kommt Frau Meier genau heute auf die Idee, den Lauf auf Note abzunehmen?
Eine halbe Stunde stupide im Kreis rennen, alle Turngeräte umrunden. Und wehe, man verlangsamt sein Tempo und könnte fast gehen. Drama. Weltuntergang. Gleich eine fünf.
"Aber hey", Anni klatscht aufmunternd in die Hände, "du hast fünfzehn Punkte."
"Super." Ich schlucke den zähen Schleim herunter. "Sind die wie ein Pflaster für meine Schmerzen?"
Anni versteht, was ich mit dieser Aussage meine, und wendet sich ab. "Sag, wenns nicht besser wird. Ruh dich noch etwas aus, ich rede schon mit Frau Meier."
Ihre Turnschuhe quietschen auf dem Hallenboden, als sie sich entfernt.
Das Stechen hat noch immer nicht abgenommen, mein Kopf fühlt sich an, als würde er vor Hitze dampfen.
Anni dreht sich, während sie zum Rest der Klasse geht. Halt - die ganze Halle dreht sich.
Ich drücke Daumen und Zeigefinger auf meine geschlossenen Augen, doch auch so fühle ich mich, als würde ich auf einem Pferd sitzen, welches gerade wild im Kreis springt.

Phils Worte hallen in meinem brummenden Schädel wider.
Pass auf dich auf.
Achte auf dich.
Vielleicht würde es helfen, einfach mal was zu trinken. Dann achte ich auf mich und passe auf, wenn ich es schon nicht vorher getan habe. Besser spät als nie. Zum Beispiel auf meinen Flüssigkeitshaushalt achten, den ich schon wieder gekonnt vernachlässigt habe.
Meine Beine zittern, stämmen sich schwerfällig in den Boden. Sie haben kaum die Kraft, mich von der Bank zu heben.
Ich stehe, zittere, meine Beine fühlen sich wie zwei gekochte Spaghetti an, doch ich stehe.
Ich... stehe nicht mehr lang.
Als hätte Phil das alles heute Morgen schon geahnt.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt