80 - Einen Schritt voraus

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Man sieht die Anspannung deutlich von Alex abfallen, als wir oben am Aussichtspunkt angekommen sind. Mit einer schnellen Bewegung wischt er sich ein paar Schweißperlen von der Stirn, während er angesammelte Luft auspustet.
Doch auch ich spüre, wie mein Körper mit einem Mal etwas schwächer wird. Alex hat es geschafft, seine Spannung auf mich zu übertragen. Möglicherweise hat mich nur diese auf meinen Beinen gehalten, denn kaum erblicke ich die vielen Bänke hier oben, finde ich mich auf einer von diesen wieder.
Ein entlastender Schmerz fließt durch meine Beine, lässt mich denken, dass nun auch wirklich jegliche Kraft aus meinem Körper entweicht.
Von meinem Magenknurren angetrieben, fordere ich von Alex, mir den Apfel zu geben, den ich mir nach dem Frühstück noch eingepackt habe. Ich teile Alex' Überraschung darüber, merke jedoch, dass ich den meiner Gesundheit zuliebe lieber jetzt vernichten sollte, bevor schlimmeres passiert.
"Ich gehe mal etwas hier umher, wenn was ist, bin ich immer da", sagt Alex, während er seinen Rucksack schultert und mich schon beinahe mit etwas Stolz anblickt.
Abwehrend hebe ich meine Hände. "So spektakulär ist es nun auch nicht, dass ich jetzt einen Apfel esse."
Alex zwinkert. "Aber die anderen werden staunen, wenn ich sage, dass Josefine eine schwere Etappe unbeschadet bewältigen konnte, ohne jegliche Energie zu sich genommen zu haben."
Augenrollend gebe ich ihm zu verstehen, dass er lieber seine Beine in die Hände nehmen sollte, bevor ich darauf noch Dinge erwidere, die wir beide bereuen werden.

"Josefine heißt du also." Mit ihrem inzwischen bekannten sanften Lächeln lässt sich Astrid neben mir nieder.
Anni tut es ihr gleich, die Astrid ihrem Blick zu urteilen wohl angeschleppt hat.
Nur schwer kann ich mir ein gereiztes Seufzen verkneifen. Ich hatte gehofft, mit Anni nun über meine brennende Frage zu reden, doch das kann ich wohl gedanklich hinten anstellen.
"Stimmt, ich hatte mich ja gar nicht namentlich vorgestellt." Ich merke, wie meine sowieso schon erhitzten Wangen eine Nuance dunkler werden. "Ich bin Josefine", nicke ich Astrid nochmal lächelnd zu. Wie unhöflich.
"Ich mag den Namen sehr", sagt Astrid. Entgegen meiner Erwartung, dass alles aufrichtig klingt, was aus Astrids Mund kommt, klingt das eher nach einer dieser dahergesagten Floskeln, die man aus Höflichkeit verliert. "Hätte ich ein Mädchen bekommen, würde es Josefine heißen. Das hatte ich mir schon vorgenommen, als ich noch in deinem Alter und sogar jünger war", ergänzt sie. Es scheint, als würde ihr für den Bruchteil einer Sekunde das konstante Lächeln entgleisen.
Und als sie es wieder eingefangen hatte, strahlte es ganz und gar nicht mehr das aus, was es sonst immer tat.

Betreten starre ich auf meine Füße. Nur schwer kann ich mir vorstellen, dass ich mit meinem Namen eine bereits verschlossene Wunde aufgerissen habe.
"Wenn ich ehrlich bin", ihr entweicht ein schon fast unangenehm berührtes Lachen, "habe ich mir immer gewünscht, ein Mädchen zu bekommen. Das heißt nicht, dass ich meine beiden Jungs ersetzen wollen würde. Aber manchmal stelle ich mir eben vor, wie das Leben wäre, wenn ich eine Tochter bekommen hätte."
Verwirrt ziehe ich meine Augenbrauen zusammen, doch darauf zuckt Annis Fuß und stößt gegen meinen. Augenblicklich lasse ich meine Gesichtszüge entspannen.
Immer wieder bin ich über die Offenheit Astrids verwundert, die sie uns als fremde dahergelaufene Jugendliche entgegenbringt.

Bevor mir diese Situation ein noch größeres Unbehagen bescheren kann, wird Astrid von Frau Gerlach um ein Gespräch gebeten.
Mit einer entschuldigenden Geste steht diese auf, wirkt jedoch nicht ganz so traurig über diese Ablenkung.
Anni zuckt auf meinen Blick nur ratlos mit den Schultern. "Vielleicht steckt etwas mehr dahinter, aber nichts, was uns etwas angehen würde. Ich finde es sowieso verwunderlich, wie viel sie uns aus ihrem privaten Umfeld erzählt. Aber vielleicht ist das hier einfach anders als in Köln. Privater."
Ich nicke. Auch wenn ich innerlich schon gewappnet bin, eine große Diskussion mit Anni über meine Frage zu entfachen, kann sie mir aus der Seele reden. Schon fast genieße ich zwischen uns die Ruhe vor dem Sturm.
Der Sturm, der mich innerlich noch früh genug überfallen wird.

Die Aussage, dass der Ausblick wunderschön sei, war keine leere Versprechung. Unter Genuss stelle ich mir dennoch etwas anderes vor.
Mit bitterem Beigeschmack gleitet mein Blick über die Berge. Bleibt an dem See hängen, dessen blaue Oberfläche in der Sonne glitzert. Verfolgt den kleinen weißen Fleck, der sich über die saftig grüne Wiese zu seiner Herde bewegt. Springt von einer Hütte zur anderen.
Annis Schweigen neben mir sagt mehr als tausend Worte.
Ihr Räuspern wiederum lässt mich ahnen, wozu sie ansetzen will. "Guck bitte nicht so, als würdest du mich gleich beim Runtergehen in den Tod stürzen." Ihr Versuch eines Lachens wird von meinem versteinerten Blick verschluckt.
Verunsichert macht sie einen Schritt vom Geländer zurück. "Ich verstehe wirklich nicht, was du hast. Ja, ich habe gestern mit Adrian telefoniert. Das hast du richtig mitbekommen. Wo liegt dein Problem?"
Ich schlucke. "Ich habe nur gefragt, worum es ging." Ein Windstoß lässt mir eine Gänsehaut übrig, die nicht so schnell verschwinden möchte. "Dein Schweigen tat weh", ergänze ich deutlich leiser und drehe mich weg.
Nein, ich hänge nicht an Adrian. Ich hatte keinerlei Bindung zu ihm. Und trotzdem fühle ich mich von Anni verraten, dass sie und er sich so nah scheinen. So nah sind.

Bevor Anni etwas erwidern kann, trommelt Astrid uns zusammen. Das Wetter hat sich binnen weniger Minuten zugezogen, die vorhin noch weißen Wolken sind ergraut. Die Wärme wird durch Windstöße erträglich gemacht, doch der Wind kündigt Regen an. Er kündigt Unheil an.

Besorgnis macht sich auf Alex' Gesicht breit, als er mich in Empfang nimmt, um mich beim Abgang abzusichern. Es braucht keine Worte, damit er mir ansehen kann, dass das Gespräch mit Anni gerade nach hinten losgegangen ist und mir etwas gewaltig auf das Gemüt schlägt.
Irgendetwas in seiner Sorge spendet mir Wärme. Zeigt mir, dass er da ist, wenn ich ihn brauche. Immer und überall zu jeder Zeit.

Ich merke, wie Alex' Blick auf mir brennt. Er lässt mich keine Sekunde aus den Augen.
Der Wind lässt die Watte in meinem Kopf durchwirbeln.
Um mich herum glückliche Mitschüler. Dennoch sieht man, wie sie sich mehr konzentrieren als sonst, wenn sie den steilen Weg nach unten nehmen.
In meinem Kopf tobt das Unwetter, welches sich draußen ankündigt, schon längst.
Meine Aufmerksamkeit darauf bedacht, die Schäden des Unwetters in meinem Kopf begrenzt zu halten, lässt meine Aufmerksamkeit für mein Umfeld schwinden. Gefährlich schwinden.

Ein falscher Schritt, ein loses Stück Boden. Ich spüre Alex' Hand, die nach mir greifen will.
Doch alles, was davon an mir bleibt, ist ein schwerer Stoß gegen meinen sowieso schon haltlosen Körper.

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Ich habe die Ruhe und Zeit gefunden, ein Kapitel zu schreiben, und freue mich sehr, dass es inzwischen das dritte in kurzer Zeit ist xD

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt