65 - Nur ein Fleck

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Diesmal kann Papas schnelles Reaktionsvermögen auch nichts mehr ausrichten.
Mit einem ziemlich unangenehmen Gefühl spüre ich den Gehweg unter meinen Armen - und die angenehmen Kieselsteinchen, die sich nebenbei freudig durch meine Haut bohren wollen.

"Wo kam der denn jetzt her?" Meckernd will ich mich wieder aufrichten, werde von Papa jedoch schnell aufgehalten.
"Hast du dir was getan?" Er greift mir unter die Arme und stellt mich sicher auf dem Boden ab.
"Nein Papa, das war ein ganz sanfter Sturz", wende ich sofort ein und strecke probehalber meine Arme aus. Funktioniert problemlos. Einen Blick wage ich trotzdem nicht - dann gehen die Schmerzen erst los. "Ich muss jetzt zum Unterricht, bin schon viel zu spät."
"Josefine!" Seine Stimme erhebt sich bedrohlich. Und in dieser Sekunde merke ich, dass ich gefangen bin.
Gefangen in dieser Situation, gefangen in Papas Händen.
Und leider auch in meinen Gedanken, die mich bis zum Rande meiner Nerven verwirren, quälen, umschwirren wie ein Schwarm Bienen. Gefährlich und aussichtslos.
Nicht mal Phils Stimme löst andere Gefühle in mir aus. Auch seine Worte, dass Adrian stabil sei, prallen an mir ab wie an einer Wand.
Mir ist es egal. Gleichgültig. Es geht mir nicht mal durch den Kopf. Diese Erkenntnis zieht höchstens wie ein kalter Windzug an mir vorbei.

Zischend kneife ich meine Augen zu, während das Feuer auf meiner Haut seinen Lauf nimmt.
"Ein bisschen sanfter bitte. Dann können wir nochmal reden", fauche ich bis zum Zerreißen angespannt.
"Nochmal reden?" Flos Augenbrauen heben sich. "Worüber?"
Zähneknirschend schlucke ich meine Erwiderung herunter, die mir gerade locker über die Zunge kommen würde. Dass ich vielleicht doch bei euch bleibe.
Nur Papas leuchtende Gestalt, die gerade von meinem Schulgelände kommt, hindert mich daran. Er hat soeben meinen Ausweg zugeschaufelt. Ich bin in einer Sackgasse.
"Mann Flo!" Mit einem Ruck entreiße ich ihm meinen Arm und lenke die Aufmerksamkeit um. "Das tut weh, verdammt!"
Seufzend legt er seinen Kopf schief. "Das waren ja schon alle Steinchen. Jetzt muss ich das nur noch kurz reinigen. Und das kann vielleicht etwas-"
"Etwas", schnaube ich verächtlich, "etwas ist sehr gut. Mach und quäle mich nicht länger."

"Dein linker Mundwinkel muss noch etwas nach oben, dann könnte man dir dein Lächeln fast abkaufen", bemerkt Papa, als er meinen Rucksack in den Fußraum legt.
"Lustig." Mein Blick ist starr aus der Frontscheibe gerichtet. Der Rettungswagen vor uns fährt gerade los - mit Blaulicht.
Papa umrundet das Auto schneller, als mir lieb ist. Da war das mit der Ruhe eine Sache weniger Sekunden. Schade.
Jetzt komme ich gar nicht mehr davon.

Mit geschlossenen Augen lehne ich meinen Kopf gegen die kühle Fensterscheibe. Ich merke, wie Papa das NEF startet. Es ruckelt auf der gepflasterten Straße und lässt meinen Kopf weniger sanft gegen die Scheibe knallen.
"Heute ist wohl nicht dein Tag", merkt Papa mit einem kurzen Seitenblick zu mir an.
Ich versinke tiefer im Sitz.
"Du findest das alles übertrieben, oder?"
Kaum hebe ich meine Schultern, fallen sie wieder nach unten. Ich fühle mich kraftlos. Meine Gedanken rauben mir jegliche Energie. Dabei weiß ich nicht mal, worüber ich mir solche Gedanken mache.
Ich schiele zu meinen Armen, die weiß verpackt sind. Unter den Verbänden brennt es, ein unangenehmes Prickeln verbreitet sich immer wieder, verschwindet ab und an jedoch.
"Was ist los?"
Fast entweicht mir ein trockenes Lachen. Wenn ich das wüsste, wäre ich um einiges entspannter.
"Weißt du", der Blinker ertönt und es kostet mich einiges an Konzentration, seinen Worten und nicht dem Blinker zu folgen, "ich merke, dass dich das mit Adrian nicht kalt lässt. Nicht so, wie du das nach außen trägst. Ich weiß nicht, woher dein Verhalten kommt, aber ich kann mir das denken."
Im Augenwinkel sehe ich ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen, was mich dazu verleitet, den Mund zu öffnen. Heraus kommt nichts - leider.
Keine Verteidigungsversuche, keine Widerrede. Nichts. Dabei weiß ich ganz genau, worauf er anspielt. Viel zu genau.
Und das ist eine Lüge.

"Mensch Franco", Phil haut Papa auf die Schulter, "Sekundenkleber soll man von Kindern fernhalten. Da müssen wir wohl nochmal drüber reden." Grinsend gleitet Phils Blick zu mir.
Meine Lippen verziehen sich zu einem schiefen Grinsen, welches nicht viel mehr in die Hose gehen könnte.
"Mach's bei deinem Kind besser", erwidert Papa und läuft am Aufenthaltsraum vorbei.
Ich drehe mich zu Phil, der verwirrt vor der Tür stehenbleibt, und öffne meinen Mund.
Er hebt eine Augenbraue. "Ich bin kein Zahnarzt."
"Und ich kein Kind mehr."
"Ihr seid unlustig!", ruft Papa, ehe er in der Umkleidekabine verschwindet.
Kopfschüttelnd öffnet Phil die Tür. "Diese Stimmung wieder. Richtig schön ist die."

"Die kleine Fine möchte abgeholt werden?" Paula betritt lächelnd den Aufenthaltsraum und sucht ihn sofort nach mir ab. Sie streckt ihre Hand in meine Richtung. "Na komm."
Zum ersten Mal an diesem Tag muss ich ehrlich grinsen und stehe auf. Eine flüchtige Verabschiedung an die anderen und ich verlasse den Raum mit großen Schritten.

"Die übertreiben alle. Ehrlich", ergreife ich das Wort, kaum dass ich an der frischen Luft bin. "Ich hätte auch locker in die Schule gehen können. Da hat es Anni schlimmer erwischt, die mit einer Erkältung im Bett liegt." Deswegen ist sie heute Morgen auch nicht vor der Schule aufgetaucht, wie ich vorhin am Handy erfahren habe.
Ziemlich erschrocken mustert Paula jedoch meine Arme, ehe ihr Blick an meinem Knie hängenbleibt.
"Das sind nur Schürfwunden", besänftige ich sie sofort. "Und das am Knie..." Ich stocke, kann mich nicht überwinden, seinen Namen auszusprechen. "Weißt du, was passiert ist?", frage ich stattdessen.
Ihr Nicken löst immerhin ein klitzekleines Problem der langen Kette. "Das ist sein Blut, keine Sorge."
Ihr Gesicht verzieht sich.
Also doch nicht wirklich beruhigt.

Die Autofahrt verläuft überwiegend still. Erst, als wir in unsere Straße biegen, setzt Paula zu etwas an. Etwas, das ich nicht hören wollte. "Adrian möchte dich sehen."
Ich schlucke, merke, wie mir heiß wird. Im nächsten Moment überkommt mich ein Zittern und ich muss mich schütteln. "Ich will ihn aber nicht sehen", erwidere ich fest entschlossen. "Warum sollte ich ihn auch sehen wollen?"
"Fine", Paula parkt vor dem Haus, "er möchte sich einfach nur bei dir bedanken."
"Muss er nicht. Das war selbstverständlich." Ich schnalle mich ab und steige aus dem Auto. Meine Beine sind ungewöhnlich weich.
Woher weiß Paula das überhaupt? Angenommen, es stimmt.
"Denkst du nicht, dass es auch für dich besser wäre, ihn nochmal zu sehen? Du kannst sichergehen, dass ihm nichts weiter passiert ist", gibt Paula nicht auf.
"Paula, ich-" Mir wird unwohl. Meine Gedanken überschlagen sich. "Ich will ihn nicht sehen", fahre ich leiser fort. "Nichts wird mich da umstimmen können."

Nichts wird mich da umstimmen können.
Kann man sich selber auslachen? Ich tue es gerade. Still und im Inneren, aber ich tue es.
Ich drehe mich um, doch Paulas Auto ist weg.
Und da stehe ich.
Vor der Klinik.

Birgits Kopfschütteln spricht Bände.
"Ganz hinten", sagt sie sofort, nachdem ich ihr deutlich gezeigt habe, dass sie nichts kommentieren muss.
"Danke."

Zitternd schwebt meine Hand vor der Tür. Alles sträubt sich in mir, anzuklopfen.
Fest entschlossen, den Weg nach Hause einzuschlagen, ohne Adrian nur eine Sekunde gesehen zu haben, möchte ich mich umdrehen, als mir direkt vor der Nase die Tür aufgerissen wird.
Erschrocken weicht Schwester Steffi zurück. "Wow, was machst du denn hier?"
"Das frage ich mich auch", rutscht es mir ungewollt heraus.
Ich höre Adrians leises Lachen aus dem Raum. Es dreht mir den Magen um.
"Äh ... ja, na dann will ich nicht stören." Verwirrt schiebt sie sich an mir vorbei und verschwindet auf dem Gang.
"Du kannst reinkommen."
Ich kann. Ob ich will, ist die andere Sache.

Nur eine Sache kann meinen Blick anziehen.
Eine Sache, die mir den Hals zuschnürt.
Eine Sache, die mir einen Schlag in die Magengrube verpasst.
Eine Sache, die nur Tatsachen unterstreicht, mich dennoch mehr mitnimmt, als sie es sollte.
Eigentlich sollte sie mich gar nicht jucken.
Eigentlich.
Sollte.
Und trotzdem lässt mich der Fleck an Adrians Hals bitter lächeln.

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Hatte ich heute Zeit zum Schreiben?
Nein.
Bin ich total gestresst?
Möglich.
Hab ich es trotzdem getan?
Sieht man an diesem Ergebnis.

Ich würde wirklich gern mehr schreiben, aber die Zeit lässt es nicht zu. Ich komme nicht mal wirklich dazu, eure Kommentare zu beantworten. Und das tut mir am meisten leid.

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt