17 - Frohes neues Pech

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Oli verharrt in seiner momentanen Bewegung. Und auch Birgit und Louisa bleiben dort stehen, wo sie sich gerade befinden. Alle Blicke richten sich auf mich.
War die Frage gerade irgendwie falsch oder was?
"Was ist denn?", hinterfrage ich nervös.
Oli schüttelt den Kopf. "Du weißt, dass wir dir nichts erzählen dürfen."
Ich öffne meinen Mund, bin zum Protestieren bereit, möchte zu einer Erwiderung ansetzen, doch das Öffnen der Tür kommt mir zuvor.
"Wenn ich ehrlich bin, hatte ich von Anfang an kein gutes Gefühl", platzt es aus Phil, ehe er überhaupt bei mir ankommt.
"Wie sieht es aus?", fragt Paula, ohne mich wirklich zu beachten.
"Guten Tag die Damen und Herren, ich begrüße sie auch recht herzlich", nuschele ich mit ironischem Unterton.
Phil greift nach meiner Hand und drückt sie kurz, ist mit seinen Augen jedoch bei Oli. Das nenne ich Begrüßung.
"Leute, ich sterbe nicht jeden Moment", bemerke ich mal so ganz nebenbei, doch das scheint Paula und Phil nicht gerade wirklich zu erreichen.
Seufzend schließe ich meine Augen und höre Oli zu, der nochmal genau erklärt, wie es bei Anni und mir aussieht.
"Schön, dass du deren Frage beantwortest, meine aber umgehst", kommentiere ich, nachdem er seine Rede beendet hat.
Oli brummt kurz, dann holt er tief Luft. "Nochmal für dich. Ich darf dir nichts sagen. Ich würde es sonst tun."
Ich weiß es ja eigentlich. Aber einen Versuch war es immerhin wert.

Meine Gedanken halten sich leider nicht an Papas Rat. Die sind darauf aus, mich von innen aufzufressen.
Langsam drehe ich meinen Kopf zu Anni, die neben mir im Zimmer liegt. Man kann ja mal im Krankenhaus ins neue Jahr feiern.
Ihre Bettdecke raschelt, als sie sich aufsetzt. Nervös verschlingen sich ihre Finger ineinander, ihr Blick starr auf ihre Hände gerichtet.
Ich richte mich ebenfalls auf.

"Es tut mir leid", bringt sie nach einem befürchteten ewigen Schweigen mit brüchiger Stimme hervor. Sie räuspert sich. "Ich habe mich komplett idiotisch verhalten. Und ich weiß doch auch nicht wirklich, warum ich das getan habe. Wie gesagt, irgendwo war die Angst, dass..."
"Anni, schon gut", unterbreche ich sie. "Wirklich, wir haben gerade größere Probleme. Lass uns ein anderes Mal ausführlicher darüber reden, wenn du das Bedürfnis hast. Jetzt würde ich einfach nur gern wissen, was mit Simon ist."
Von Anni kommt ein Nicken. "Ja, das würde ich auch gern."

Und leider tritt nach diesem kurzen Austausch ein erneutes Schweigen ein, bis Paula, Phil und Annis Eltern reinkommen.
Paulas Blick fällt prüfend auf mich, während Phil zwei Stühle neben das Bett stellt.
"Alex hat mir geschrieben", sagt sie nach dem Setzen an Anni und mich gerichtet.
"Simon?", frage ich sofort und spüre, wie mein Herz beschleunigt.
Phil nickt an Paulas Stelle. "Viel können wir euch wirklich nicht sagen. Seine Hand muss operativ versorgt werden, aber keine Sorge, es sind noch alle Finger dran. Und er wird auch ganz schnell wieder auf den Beinen sein", erklärt Phil lächelnd.
Operativ versorgt. Weil ich mitten im Weg stehen musste. Das habe ich ihm super eingebrockt.
"Aber guck mal", setzt Paula zu einer Rechtfertigung an. "Hätte er seine Hand nicht eingesetzt, hätte der Böller einen von euch im Gesicht getroffen. Da ist es an der Hand doch nochmal glimpflicher getroffen."
Meine Schultern heben sich. Getroffen ist getroffen, Operation ist Operation. An der ich die Schuld habe.

Diese Ruhe im Zimmer lässt meine Gedanken umso lauter werden.
Krampfhaft probiere ich, mir die Sätze vorzubereiten, die ich Papa sagen möchte, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.
Wie schaffe ich es, ihm die Wahrheit aufzutischen, aber keine allzu große Enttäuschung in ihm hervorzurufen?
Wahrscheinlich ist das eine entweder-oder-Frage. Es sei denn, Papa meint es gut mit mir. Das tut er ja eigentlich immer, und vorhin sah er auch nicht so aus, als würde sich etwas bei ihm anbahnen, als ich schon mal eine Lüge offenbart habe, aber wenn er es doch enttäuschend findet, dann... Ja, was dann?
Dann ist das so? Aber ich möchte ihn nicht enttäuschen.
Daran hätte ich vielleicht vorher denken sollen.

Um Mitternacht probieren Phil, Paula und Annis Eltern, uns irgendwie aufzuheitern.
Bei Anni scheint das sogar eine gewisse Wirkung zu zeigen, doch auf das "Frohes neues Jahr" der anderen kann ich nicht reagieren.
"Wohl eher frohes neues Pech", murmele ich in Gedanken versunken. Wenn ich das nun vergangene Jahr Revue passieren lasse, kann ich mit Sicherheit sagen, dass das neue Jahr etwas lieber mit mir umgehen darf. Doch ob das der Fall ist, wird sich erst im Laufe der Zeit herausstellen.

Sekunde um Sekunde springt der dünne Zeiger zum nächsten Strich, erzittert leicht, holt Luft, springt weiter.
Mir ist wohl noch nie aufgefallen, wie lang eine Sekunde ist. Oder wie lang sie werden kann.
Das offene Fenster knallt mit Wucht zu, als jemand die Zimmertür öffnet.
Erschrocken fahre ich zusammen.
"Was ein Wetter draußen", flucht Papa leise und fährt sich durch die Haare. "Wann wurde Anni denn abgeholt?", fragt er, nachdem er meine Einsamkeit feststellen konnte.
"Vor fünf Minuten", antworte ich ruhig, bin innerlich jedoch genauso aufgewühlt, wie es das Wetter draußen ist.
"Na dann komm mal. Wollen wir noch bei Simon vorbeischauen?"
Ich stehe auf und nicke.
Bevor wir jedoch das Zimmer verlassen, zieht er mich in eine Umarmung. "Frohes neues Jahr, meine Kleine."
"Kleine", nuschele ich schmunzelnd. "Dir aber auch."

Papa unterschreibt die Papiere an der Schwesternkanzel und wechselt ein paar Worte mit Tabea, in denen es um die weitere Therapie geht.
Ich schlendere derweil zum Aufzug und beantworte auch Frederiks verwunderte Frage, was ich denn hier mache.
"Knalltrauma. Und jetzt möchte ich kurz bei Simon vorbeigehen."
Frederik hebt eine Augenbraue. "Hängen eure Fälle zusammen?"
Anscheinend hat Frederik Simon heute schon behandelt. "Leider ja", gebe ich ungern zu. "So gesehen ist es meine Schuld, dass er jetzt hier liegt."
"Ist es nicht", mischt sich Papa mit ein, der inzwischen auch am Aufzug angekommen ist.
Frederiks zweite Augenbraue gesellt sich zur anderen. "Wie dem auch sei, ich muss jetzt auch auf die Chirurgie." Noch immer leicht irritiert guckend, drückt er auf den Knopf des Aufzugs.

Papa wartet vor dem Zimmer.
Die Klinke liegt kalt in meiner Hand, als ich nach ihr greife. Ich muss nochmal tief durchatmen, bevor ich sie nach unten drücken kann.
Simons Lächeln, mit dem er mich begrüßt, beruhigt mich etwas. Sauer scheint er also nicht zu sein.
"Wie geht es dir?", fragt er, bevor hier irgendein anderer das Wort ergreifen kann. Denn zu meiner Verwunderung sitzen Anni und Daniel neben dem Bett.
"Das muss ich dich fragen", erwidere ich sofort. "Aber ich wollte danke sagen. Hättest du nicht so kopflos gehandelt, dann..." Ich schlucke.
"Wäre das gegen deinen Kopf gegangen", vervollständigt Simon für mich. "Du musst dich nicht bedanken. Hauptsache, euch geht es gut. Ich habe schon von Anni gehört dass du jetzt Probleme mit deinem Ohr hast?"
Ich wische dieses Problem mit einer Handbewegung weg. "In spätestens sechs Wochen wird alles wieder normal sein. Die Therapie wurde ja rechtzeitig gestartet."
Simon lächelt mich warm an. "Das beruhigt mich."
Tonis Worte tauchen in meinem Kopf auf. Ich finde diese in Simon gar nicht wieder.
Hätte Toni einen Grund, mich in dieser Hinsicht anzulügen? Eigentlich nicht, immerhin hätte er nichts davon.

Papa sieht erleichtert aus, als ich mit einem Lächeln auf den Gang trete.
Er legt mir einen Arm um die Schultern. "Alles gut?"
Ich nicke. "Alles gut."
Zumindest fast alles. Zwischen Anni und mir scheint das Gröbste geklärt zu sein, Simon konnte mir den Großteil meiner Schuldgefühle nehmen. Doch die wohl größte Hürde liegt noch vor mir. Papa von dieser Lüge erzählen.
Auch wenn er das noch nicht angesprochen hat, spüre ich, dass er das noch wird. Zu Hause.
Diese Erkenntnis fühlt sich so an, als würde ich aus purer Dummheit geradezu gegen eine Mauer rennen.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt