79 - Verdeckt ist nicht verbannt

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Den letzten richtigen Tag der Klassenfahrt habe ich mir angenehmer vorgestellt, als mit Bauchkrämpfen ziemlich krampfhaft, was ich nicht lache, zu probieren, die Natur der Berge zu genießen.
Manche würden solch eine Klassenfahrt eher als eintönig beschreiben, doch eigentlich hätte ich wirklich eine schöne Zeit hier. Wäre nicht dieser eine mulmige Gedanke im Hinterkopf - und meine Gebärmutter, die mich auf die Knie zwängen will.

Heute führt uns der Weg zu einem Aussichtspunkt, von dem man einen wunderschönen Blick über das ganze Dorf haben soll. Oder so ähnlich, denn als Astrid uns nach meinem sehr ausgewogenen Frühstück - das Glas Wasser mit der Schmerztablette - vom heutigen Plan erzählt hat, war ich mit meinen Gedanken eher in einer heißen Badewanne, die mich wenigstens für kurze Zeit in den krampflösenden Himmel befördert hätte.

So finde ich mich zwischen Steinen und Wiesen und ziemlich holprigen Wegen wieder, neben mir Anni, die immer häufiger einen Blick auf mich wirft.
"Was?", bemerke ich irgendwann ziemlich gereizt von den erneut stärker werdenden Beschwerden. Es ist immer unterschiedlich, wie stark meine Periode kommt, doch natürlich kommt sie in den ungünstigen Lagen des Lebens am freudigsten an den Tag.
"Du bist blass. Und hast immer noch nichts gegessen. Wenn das mal nicht in die Hose geht." Sie bedenkt mich mit einem Seufzer, ehe sie in Alex' Richtung nach hinten nickt. "Bitte meld dich rechtzeitig bei ihm, falls es gar nicht mehr geht. Astrid hat erwähnt, dass die letzte Etappe vor dem Aussichtspunkt nicht gerade leicht wird und man dort ziemlich vorsichtig sein soll."
Ich hebe meine Augenbrauen. "Sie hat was? Das hab ich gar nicht mitbekommen."
Anni nickt. "So hast du auch ausgesehen, als du da auf dem Stuhl gelungert und abwesend einen Punkt hinter Astrid anvisiert hast."

Das Knirschen unter unseren Schuhen vermischt sich mit dem Zwitschern der Vögel und dem leichten Stimmengewirr der Klasse.
Die Sonne gibt ihr Bestes, während der leichte Wind leider nicht dafür ausreicht, diese Wärme auszugleichen.
Im Schlepptau meine zunehmende Schwäche, die mir zeigen will, wie fahrlässig es war, nichts zu essen.

Anni und ich schweigen, obwohl mir schon seit einigen Metern eine Frage auf der Zunge liegt, die sich nicht raus traut. Ich weiß ehrlich gesagt nicht so ganz, woher diese anwehende Ängstlichkeit kommt, doch sie schafft es, diese Frage fest genug an meine Zunge zu tackern.

Anni ist gestern Abend mit knappen Worten an mich aus dem Zimmer verschwunden, in dem wir mit fast der gesamten Klasse eine wirklich lustige Zeit verbracht haben. Ich habe den Abend genossen, hatte kaum einen Gedanken an Dinge verschwendet, die ich sowieso nicht in der Hand habe.
Die Worte, mit denen sie verschwunden war, habe ich nicht verstanden, zu laut war es um mich herum und zu vertieft war ich in eine lustige Story von Leon, wie er mal am Flughafen einen ziemlich heiklen Alarm ausgelöst hat. Was ich aus seiner Geschichte gelernt habe? Niemals die Hände eincremen, wenn man kurz vor der Sicherheitskontrolle steht. Das könnte nur Sprengstoffalarm auslösen und einem eine Hand voll Bundespolizisten auf die Pelle jagen.

Ich dachte mir dabei nicht viel, vielleicht musste sie auf Toilette oder sie wollte ihre Eltern anrufen.
Erst, als sie wirklich eine auffällig lange Zeit fehlte, machte ich mir langsam Sorgen.
Ich beschloss aus Angst, ihr könnte etwas passiert sein, nach ihr zu gucken. Der erste Weg führte mich zu unserem Zimmer, doch Fehlanzeige. Auf mein Klopfen folgte keine Reaktion, und als ich die Türklinke durchdrückte, bewegte sich die Tür kein Stück. Es war abgeschlossen.
Mein Herz wusste nicht ganz, wie es reagieren sollte. Sollte es sich beruhigen, weil Anni auf jeden Fall nicht auf Hilfe hoffend in unserem Zimmer lag, oder sollte es seine Arbeit steigern, weil sie somit sonst wo sein konnte?

Ich ließ eine Mischung zu und machte mich auf zur zweiten Anlaufstelle.
Der Weg zu eben dieser, die Sitzgelegenheiten etwas abseits der Jugendherberge, spielte mir in meine eigenen Karten.
Ich sah Alex vor der Jugendherberge in einem schwach flackernden Licht stehen. Die Glühbirne hat ihre beste Arbeit wohl schon vollbracht.
Noch bevor er mich sehen konnte, blieb ich stehen und traute meinen Augen kaum. Er unterhielt sich in augenscheinlich lockerer Stimmung mit Astrid. Und diese zog immer wieder an einer glimmenden Zigarette. Ehrlich gesagt wusste ich nicht, was mich ungläubiger gucken ließ. Der Fakt, dass Alex nach all dem auffälligen Verhalten einen lockeren Tratsch mit ihr führte oder der Fakt, dass Astrid rauchte? Es gibt immer gewisse Bilder und Vorstellungen, die man ohne viel Wissen über eine Person von eben dieser hat. Und Zigaretten passten definitiv nicht dazu.
Nachdem ich dieses Fragezeichen einigermaßen verwischen konnte, ging ich meiner eigentlichen Sorge schnellstmöglich hinterher.
Mit wenigen Schritten war ich bei Alex angekommen, dessen Gesichtszüge ziemlich angespannt wirkten, als ich ihn im immer noch schwachen Licht näher kam.
"Hast du Anni zufällig gesehen?", richtete ich mich direkt an ihn, nachdem ich mir ein Husten durch den Zigarettenrauch unterdrücken musste, der mir direkt in die Lunge zog. Ich wusste, weshalb Alex' Gesicht alles andere als locker war.
Zu meinem Erstaunen nickte er. "Sie ist etwas weiter hinten bei den Bänken. Vor wenigen Minuten ist sie mit einem Handy am Ohr an mir vorbeigezogen."
Dankbar lächelte ich Alex an und folgte seinem Hinweis, der mich auch nicht leer ausgehen lassen hat.

Nachdem ich jedoch wusste, mit wem sie telefonierte, hätte ich auch gut und gern auf den beruhigend wirkenden Anblick von Alex und Astrid verzichten können, der mir zumindest die abstrakten Gedanken zu diesem Thema weniger wichtig erschienen ließ.

"Spucks aus." Anni holt mich ins Hier und Jetzt zurück. Doch nicht mit der sanften Variante, eher mit der 'Ich hau dir ein Brett vor den Kopf'- Variante. Zumindest hat sich das so angefühlt, nachdem ich schwer damit beschäftigt war, den gestrigen Abend Revue passieren zu lassen.
"Ich sehe doch, dass dir etwas auf der Zunge brennt", ergänzt sie und stupst mich an.
Sogar dieses leichte Anstoßen bringt mich aus dem Gleichgewicht, was von Alex, der mich wohl unter Beobachtung hat, mit einem besorgten Blick quittiert wird. Warum muss ich mich auch umdrehen, um zu gucken, ob er meinen kleinen Aussetzer gesehen hat?
Bevor ich jedoch mit vielen Bemühungen und Versuchen dazu komme, ihr die Frage ohne jeglichen Verdacht auf falsche Tatsachen stellen zu können, bleibt Astrid stehen und dreht sich zu uns um. Und mit ihr bleiben auch die anderen stehen.

Astrid deutet hinter sich, wo sich ein ziemlich steil und schmal wirkender Aufstieg erstreckt.
Nun merke auch ich, was sie damit gemeint haben muss. Nicht gerade leicht.
"Ich bitte euch, diesen Weg nun wirklich mit Vorsicht zu gehen. Keine Spielereien und lustige Andeutungen, dass ihr jemanden schubst. Man kann hier leicht abrutschen und sich etwas tun, also achtet auf euch und eure Mitmenschen."
Noch während ich die Worte aufnehme, legt sich eine Hand auf meine Schulter. "Du bleibst bitte vor mir. Am liebsten wäre mir eigentlich, dass du da in deinem Zustand erst gar nicht raufgehst, aber ich kenne dich. Tue mir wenigstens den Gefallen."
Alex' Worte klingen eindringlich. Und ich weiß genau, dass seine Gedanken vor allem vom Spiegel gesteuert werden. Ihm ist es nicht geheuer, dass er auf Klassenfahrt noch nicht zugeschlagen hat.

Immerhin kann er ja nicht wissen, dass es gedanklich schon lange passiert ist.

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So schnell hätte ich persönlich nun auch nicht mit einem neuen Kapitel gerechnet, aber so solls scheinbar sein :)
Vielen Dank für die überwältigenden Kommentare unter meinem letzten Kapitel. Ich sehe es alles andere als selbstverständlich, dass ihr nach dieser langen Zeit noch immer an meiner Geschichte interessiert seid. Danke!

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt