86 - Einsame Realisation

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Mein Versuch, ungläubig aufzulachen, wird im Keim erstickt, als ich zu Phil sehe, der seine Lippen so sehr aufeinander presst, dass jegliches Blut aus ihnen verschwindet. Sein Blick ist starr aus dem Fenster gerichtet und seine stillstehende Brust verrät mir, dass er es nicht wagt, Luft zu holen. Ähnlich sieht es bei Alex aus, der seine Hände schützend vor sein Gesicht hält.

Langsam sickert es zu mir durch. Die Wahrheit. Es ist kein schlechter Scherz und kein dämlicher Anlauf, ein anderes Geheimnis zu wahren. Es ist die nackte Wahrheit, die mich mit voller Wucht trifft und mein ganzes Leben mit all den darin getätigten Aussagen meiner Familie in Frage stellen lässt.

„Raus", bringe ich über meine zitternden Lippen. Es ist nicht viel mehr als ein verzweifelter Versuch, die Worte von mir fernzuhalten. Vor allem die folgenden Dinge möchte ich nicht hören. Ihre Entschuldigungen. Ihre Ausreden, die sie dazu bewegt haben, immer um den heißen Brei zu reden und mir nicht einmal zu gönnen, zu wissen, wie meine Mutter aussieht.
„Fine, bitte, ich kann-"
„Raus!", unterbinde ich Papas brüchigen Ansatz mit mehr Nachdruck, der mich viel Mühe kostet. In nicht mal vierundzwanzig Stunden ist es nun das zweite Mal, dass ich von allen verlange, das Zimmer zu verlassen. Der größte Unterschied liegt wohl darin, dass ich diesmal mit vollem Ernst JEDEN meine. Ich möchte gerade auch keinen Phil an meiner Seite haben, immerhin hat auch er eine tragende Rolle in dieser völlig absurden Geschichte.

„Komm Franco", Alex erhebt sich vom Stuhl, seine Worte wirken bedacht gewählt, „Fine hat das Recht darauf, allein zu sein und diese Information in Ruhe sacken zu lassen."
Eine Gänsehaut überzieht meinen gesamten Körper. Auch wenn ich Alex in diesem Moment dankbar bin, wird es seine Zeit brauchen, um auch die Wunde in mir, die er mit seinen Verheimlichungen verursacht hat, zu schließen.

So ruhig der Raum ohne die anderen auch scheint – die Ruhe kann sich nicht auf mich übertragen. Mir kommen Gesprächsfetzen mit Astrid in den Kopf und scheinen sich nicht mehr löschen zu wollen. Sie stoßen mir bitter auf.

Astrid hat Andeutungen zu Papa gemacht. „Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es wirklich Köln war, worin ich mich verliebt habe, oder ob es der junge Mann war, der es mir mehr angetan hat." Ihr verschmitztes Lächeln, welches sich nach diesem Satz auf ihren Lippen gebildet hatte, könnte mich würgen lassen. Mit keiner Faser hatte ich da geahnt, dass sie über meinen Vater spricht.

Ihre Aussage, dass sie zwei kleine Söhne hat. Die Tragweite dessen wird mir nur langsam bewusst. Ich habe, biologisch gesehen, zwei Halbbrüder. Doch dass sie noch zwei weitere Kinder in die Welt gesetzt hat, hat sie scheinbar auf lebenslang verdrängt. So zumindest ihre Hoffnung, die sie nun unverhofft eingeholt hat.

Doch was mir den größten Stich versetzt und wohl das im Nachhinein widerwärtigste ist, was ich je von einem Menschen gesagt bekommen habe: „Hätte ich ein Mädchen bekommen, würde es Josefine heißen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir immer gewünscht, ein Mädchen zu bekommen. Aber manchmal stelle ich mir eben vor, wie das Leben wäre, wenn ich eine Tochter bekommen hätte."

Mir wird übel. Es ist so absurd, wenn man sich vor Augen führt, dass sie das zu ihrer eigenen Tochter gesagt hat. Die Josefine heißt. Ich fühle mich wie in einem schlecht geschriebenen Buch, welches auf Amazon nur zwei Sterne als Bewertung hat, weil das Ende so unrealistisch gestaltet wurde. Ich könnte kotzen.

Als die Stille im Zimmer droht, mich zu ersticken, greife ich nach meinem Handy. In meinem Kopf findet sich nur eine einzige Person auf dieser Welt, die mich nun verstehen wird. Mit der es mir etwas bringt, wirklich darüber zu reden, da sie in der gleichen Position sitzt wie ich. Vielleicht wusste er mehr, doch er ist der Letzte, dem ich nun Vorwürfe machen würde.

Toni hebt nach dem zweiten Ton schon ab. Seine Begrüßung wirkt gehetzt, als hätte er einen Sprint zu seinem Handy eingelegt. „Fine! Wie geht es dir?"
Auch wenn diese ganze Situation alles andere als zum Lächeln ist, zupft es trotzdem an meinen Mundwinkeln. Zumindest an einem. Toni scheint wirklich in großer Sorge zu sein und es ist allein schon tröstlich, seine Stimme zu hören. Ich vermisse ihn. In letzter Zeit hat sich unser Umgang miteinander so geändert und gute Gespräche sind leider sehr viel seltener geworden, sodass ich beruhigt bin, ihn dennoch immer an meiner Seite wissen zu können.
„Gesundheitlich geht es mir den Umständen entsprechend ganz gut", beginne ich zu antworten, doch stocke. In der Theorie hat es sich wesentlich leichter angefühlt, ihm von den ganzen Geschehnissen zu erzählen, als es nun in der Praxis sein wird.
Ein unterschwelliges Rascheln reißt mich aus meinen Gedanken und lenkt meine Konzentration erneut auf das Telefonat.
„Paula", höre ich Tonis leise Stimme empört im Hintergrund.
„Oh Gott, Fine, du kannst dir nicht vorstellen, was du mit uns machst. Ich bin vor Angst hier gestorben!" Paula klingt wirklich aufgebracht. Sofort habe ich das Bedürfnis, sie zu umarmen. Wenn jetzt für jemanden dieser Stress schädlich ist, dann für sie und ihr Baby.
„Gestorben bist zu glücklicherweise offensichtlich nicht", grunzt Toni im Hintergrund. Sein Lachen ist schwer zu überhören. Es tut mir weh, dass ihm dieses in den nächsten Minuten im Hals stecken bleiben wird.

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt