60 - Zwischen Traum und Realität

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"Ich weiß es nicht, wenn ich ehrlich bin", sind ihre ersten Worte. "Er ist total schwach, hat keinerlei Kraft und ist mir immer wieder weggekippt."
Ich springe auf, werde von Alex jedoch sofort festgehalten. Es ist, als würde er auch meine Gefühle festhalten. Meine schrecklichen Gedanken. Denn ich spüre nichts. In mir klafft eine gähnende Leere, die nur eine Sache wiederholen kann.
Toni ist da.
Mehr möchte gerade einfach nicht zu mir hindurch.

Papas und Charlottes Gespräch zieht an mir vorbei. Es ist nichts mehr als ein lästiges Hintergrundrauschen, welches sich in einem konstanten Ton hinter meinen einen Gedanken legt. Auch der leichte Schwindel, den ich einzig und allein in meinem Kopf verspüre, passt zu dieser ganzen Atmosphäre.
Ich lasse es geschehen, dass Alex mich zum Auto lenkt. Auch wenn meine Beine unter mir wie zwei zerbrechliche Salzstangen wirken, laufe ich einfach zum Auto. Steige ein. Lasse meinen Kopf gegen die Fensterscheibe sinken.
Sogar das Anschnallen wird übernommen - von wem weiß ich nicht.
Kaum läuft der Motor, sehe ich nur noch schwarz.
Mit nur einem einzigen Gedanken.
Toni ist da.

"Er ist da?" Aus der Dunkelheit tönt ein gehässiges Lachen. "Er ist da?"
"Ja, er ist da", wiederhole ich mit fester Stimme und schlucke den bitteren Geschmack einfach herunter. Wer redet da mit mir?
"Du bist wahnsinnig!", erwidert die Stimme aus dem Nichts und schreit schrill auf. Aus dem richtigen Nichts.
Vor mir ist es dunkel, hinter mir, über mir, unter mir. Links, rechts.
Ich drehe mich im Kreis, hebe meinen Blick, senke ihn, und sehe nichts anderes als Dunkelheit.
'Ich bin wirklich verrückt geworden', denke ich mir. 'Ich bilde mir Stimmen ein.'
"Dein kleiner, dummer, naiver Bruder ist nicht da."
"Doch", nun schreie ich "er ist da, verdammt!" Ich schreie, kreische, halte mir meine Ohren zu. "Er ist da, er ist da, er ist da", nuschle ich immer wieder mit zugehaltenen Ohren und drehe mich erneut im Kreis.
Unter mir wird der Boden weicher. Weicher und weicher, bis er sich gänzlich aufzulösen scheint.
Ich falle. Falle tiefer ins Nichts und kann nichts dagegen machen.
Toni muss da sein.

"Fine!"
Heftig atmend schnelle ich hoch und stoße auf dem Weg direkt mit jemandem zusammen.
Fluchend weicht Phil etwas zurück.
Meine Augen brennen und schenken mir nur ein verschwommenes Bild, doch ich sehe, wie Phil sich seine Stirn reibt.
"Was hast du für einen Schädel", murmelt er mit zusammengekniffenen Augen.
"Phil, ich ... Toni-" Die restlichen Worte schnüren mir meinen Hals zu. Sie beschleunigen meine Atmung nur, doch es scheint kaum etwas durchzukommen. Schweiß steht auf meiner Stirn, mein ganzes Gesicht ist erhitzt und klebt.
Phil schiebt seine Kopfschmerzen zur Seite. "Beruhige dich. Toni ist da, ja. Er ist im Krankenhaus."
Mir schwirrt der Kopf. Er ist da.
"Guck mich an, Fine. Atme nach meinem Rhythmus. Ganz ruhig einatmen, ganz ruhig ausatmen." Seine Augen durchbohren mich mit einem besorgten Funkeln, während er sich zu mir aufs Bett setzt.
Während ich zitternd und tief Luft hole und mich beherrschen muss, diese nicht gleich wieder voller Panik nach draußen zu pusten, kommt in mir die Frage auf, wie ich überhaupt ins Bett gekommen bin.
Durch die Jalousie blinzelt mir nicht die Sonne entgegen, doch es ist hell hinter ihr.

"Was hast du denn geträumt, mh?" Phils Hand löst sich von meinem Handgelenk, als er merkt, dass ich mich allmählich wieder beruhigt habe. Zumindest hat mein Körper das. Noch immer fühlt sich mein Gehirn an, als wäre es mit einer Walze überfahren worden, nur um danach zerknüllt zu werden. Dazu kommt der dumpfe Schmerz, der sich langsam in meinem Kopf verbreitet. Phils und mein Zusammenstoß war nicht von der sanften Sorte.
"Der Traum war einfach nur", ich suche nach dem richtigen Wort, "ekelhaft."
"Ekelhaft?" Er zieht eine Augenbraue hoch. "Inwiefern ekelhaft?"
"Vielleicht eher grausam", berichtige ich. Allein bei dem Gedanken überzieht mich eine Gänsehaut.
"Du hast immer wieder geschrien, dass er da ist. Meinst du damit Toni?"
Ich nicke. "Toni ist doch da, oder?" Die Angst, das alles kann nur ein Traum gewesen sein, keimt in mir auf.
"Ja, wie bereits gesagt, Toni ist da", bestätigt Phil mir und drückt meine Hand.
Wie bereits gesagt? Das ist dann wohl untergegangen.
Phil ergreift erneut das Wort, bevor ich mich überhaupt wirklich sammeln kann. "Komm, lass etwas essen gehen. Es ist schon nach zwei."
Meine Augen werden groß. "Du meinst vierzehn Uhr?"
Sein Lachen klingt so erheitert und frei, als wären in ihm keinerlei Sorgen mehr. Obwohl - gibt es überhaupt noch einen Grund, sich Sorgen zu machen?
Ich bin unwissend. Unwissender als alle anderen.

"Alles wieder okay, Fine? Schlecht geträumt?", hakt Paula mit deutlicher Besorgnis nach. "Das hat sich ja nicht gerade nach Freude angehört."
"Geht schon", winke ich ab und folge Phil in die Küche. Paula steht ebenfalls auf.
Völlig fertig lasse ich mich an den Tisch fallen. Es fühlt sich nicht so an, als hätte ich viel geschlafen. Eher so, als hätte ich drei Nächte durchgemacht.
"Reicht dir erstmal ein Brot oder soll ich was kochen", fragt Phil mit Blick zu mir.
"Wenn es nach mir geht, muss ich gerade gar nichts essen. Aber ich nehme ein Brot."
Phil guckt zufrieden zu Paula. "Soll ich dir auch noch eins machen?"
"Zwei", kommt sofort ihre Antwort.
"Zwei?" Phil grinst Paula an. "Hast du schon wieder Hunger?"
"Hey, irgendeiner muss ja auch unser Kind ernähren", erwidert sie und kneift ihm in den Arm.
"Das freut mich sehr, dass du unser Kind ernährst." Mit demselben Grinsen beugt er sich nach vorn. Paula ebenfalls, doch kurz vor seinen Lippen stockt sie.
"Was hast du denn da gemacht?" Ihr rechter Daumen fährt über eine rote Stelle an seiner Stirn.
"Aua", zischt Phil. "Drück doch nicht so doll."
Paula dreht sich zu mir. "Du hast an deiner Stirn ja auch einen roten Fleck. Was habt ihr denn da oben veranstaltet?"
"Gegenverkehr." Phil seufzt, legt sein Grinsen jedoch nicht ab. "Ich hab nicht aufgepasst und bin auf der falschen Spur gefahren."
"Muss ich das jetzt verstehen?" Ihr Blick geht wieder zu ihm.
Phil schüttelt seinen Kopf. "Aber den Kuss hätte ich trotzdem gern."
Den bekommt er dann auch.

Ich lehne an Phil und genieße seine Nähe, die mir nichts anderes als Geborgenheit gibt.
"Wo sind Papa und Alex eigentlich?", frage ich irgendwann unvermittelt. Da sich Paula und Phil bis eben unterhalten haben, bezweifle ich, dass ich das Fernsehprogramm störe, welches im Hintergrund läuft und keine Aufmerksamkeit bekommt.
Mir kommt diese Frage jetzt erst so richtig in den Sinn. Zu doll war ich davor mit meinem Traum beschäftigt, der sich in meinem Kopf immer wieder abgespielt hat.
"Bei Toni in der Klinik", kommt die Antwort von Paula.
"Wisst ihr, wie es ihm geht?"
Ich spüre Phils Kopfschütteln. "Leider nicht. Wir haben noch nicht mit einem der beiden geredet."
Mit Abschluss seines Satzes wird jedoch ein Schlüssel in das Schloss gesteckt.
"Die Antwort werden wir jetzt wohl bekommen", bemerkt Phil.

"Nee Papa, ich gehe gleich ins Bett. Ich bin fertig."
Mir stockt der Atem. Mit einem Ruck löse ich mich aus Phils Arm, springe auf und renne in den Flur.
Achtlos drücke ich mich an Alex und Papa vorbei, die Toni abschirmen.
Kaum versehe ich mich, habe ich Toni in einer Umarmung.
Ich drücke ihn fest, als könnte er sich jeden Moment in Luft auflösen. Mein Bruder. Ich habe meinen Bruder wieder.
Diese Erkenntnis durchströmt mich mit einer Mischung aus Wärme und Erleichterung.
Immer fester drücke ich ihn, um ihn nie wieder zu verlieren.
Auch meine Tränen, die sich in Tonis Shirt saugen, verkörpern alles, was ich in den letzten Tagen, nein, in den letzten Wochen durchgestanden habe.
In mir lässt alles nach, jede Spannung löst sich in Luft auf. Nur Toni ist es, der mich auf den Beinen hält.

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Ich glaube, ich habe noch nie so lange kein Kapitel gebracht. Es tut mir wirklich leid, aber ich kann nicht sagen, wie oft jetzt noch Kapitel kommen werden. Ich hoffe doch, dass ich das wieder regelmäßig auf die Reihe bekomme.

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt