91 - Neues Leben

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"Nein", jammert Paula auf. Sie dreht ihr Gesicht mit verzerrter Miene zur Couchlehne, sodass sie keinen mehr angucken kann. "Das wird mir hier alles zu unangenehm." Sie atmet angestrengt ein und aus. "Und damit meine ich nicht mehr nur die Schmerzen."
Alex, der sich bereits Handschuhe anzieht, hält die Luft an. "Verständlich", sagt er dann. "Aber uns bleibt hier keine andere Wahl." Sein Blick gleitet zu Phil, der sich langsam daran macht, sich wieder auf die Beine zu begeben. "Phil, sei bitte vernünftig. Für Paula. Du hilfst ihr nicht, wenn du jetzt hier noch die Rolle des Arztes übernimmst."
Ich glaube es kaum, als Phil langsam einsehend nickt.
"Setz dich zu Paula, bevor du uns ein zweites Mal abklappst", wird ihm von Flo befohlen, was er auch direkt umsetzt.
Kaum sitzt Phil ebenfalls auf der Couch, schreit Paula auf.

Ich zittere. Nervös beiße ich mir auf die Lippe, während ich steif in den Garten gucke. Ich sollte doch in mein Zimmer gehen.
"Fine, hol bitte Handtücher", bekomme ich plötzlich eine dringliche Anweisung von Alex.
Froh darüber, etwas tun zu können, stütze ich mich vom Boden nach oben. Meine Beine fühlen sich weich und schwach an, doch ich schaffe es irgendwie, ohne ein Stolpern oben im Bad anzukommen. Die Lautstärke ist hier nur bedingt leiser, die Stimmen von unten müssen gegen Paula ankommen.
Achtlos ziehe ich die größten Handtücher aus dem Schrank, ignoriere die Unordnung, die die restlichen Handtücher anrichten, die mit aus dem Schrank gefallen sind, und gehe mit beschleunigten Schritten wieder nach unten.

Kaum nimmt Flo mir den Stapel Handtücher ab, geht alles ganz schnell.
"Du hast es gleich geschafft", sagt Alex. Selbst die Ruhe in seiner Stimme zittert.
Es klingelt, bevor ich mich entscheiden kann, was ich als nächstes mache.
Meine Beine tragen mich wie automatisch zur Tür. Erneute Erleichterung überkommt mich, weil ich aus dieser Situation fliehen kann, ohne mich wirklich davor zu drücken.

Eine unbekannte Notärztin steht mir gegenüber, als ich die Tür öffne, schräg dahinter ein ebenfalls unbekannter Notfallsanitäter.
"Ich glaube", setze ich an, als ein Geschrei zu hören ist. Das Geschrei eines Babys.
Überrascht hebt die Ärztin ihre Augenbrauen.
Mein Herz macht einen Hüpfer, setzt aus, rennt weiter. "Oh Gott." Ich schlage mir die Hand vor den Mund, lasse die Türklinke los, die ich bis eben noch immer fest umklammert hatte, und bin in der nächsten Sekunde im Wohnzimmer.
Egal wo ich hingucke, ich sehe Tränen. Und es sind nicht nur meine, die mir unweigerlich kommen.

Alex' Lächeln, während er das kleine Bündel in ein Handtuch wickelt. Seine Träne, die ihm stumm über die Wange rinnt.
Phil, der Paulas Stirn küsst und jetzt schon verheult aussieht.
Paula, die ihre Gesichtszüge endlich entspannen kann und ebenfalls ganz glasige Augen hat.
Flo grinst über beide Ohren und wischt sich mit einer flüchtigen Handbewegung über die Augen.
Selbst Adrian, der sich in die hinterste Ecke des Wohnzimmers zurückgezogen hat, sieht gerührt aus.
Die beiden gerade angekommen Rettungskräfte halten sich im Hintergrund, nachdem sie gemerkt haben, dass sie gerade wohl sowieso nicht gebraucht werden.
"Wie heißt sie eigentlich?", fragt Alex und guckt ganz verträumt zu Phil, der sein Kind nun im Arm hat. "Ihr habt den Namen ja gut behütet", schmunzelt er.
"Louisa", sagt Paula mit einem geschwächten und dennoch ausdrucksstarken Lächeln.

Ein Gepolter im Flur durchbricht die sich magisch anfühlenden Minuten.
"Paula, es tut uns so leid, dass -"
Ich drehe mich um. Jacky bricht ihren Satz geschockt ab. "Oh. Mein. Gott. Kneif mich mal bitte."
Doch zum Kneifen ist auch Karin zu überfahren von der Situation. Hinter ihnen erblicke ich Papa, der wohl mit dem RTW zusammen eingetroffen ist. Der Flur ist nun voll mit Menschen.
"Louisa ist schon da", erfasst Jacky die Situation als erstes in einem Satz und stürmt auf die frisch gebackenen Eltern zu.
Alex' Augenbrauen ziehen sich verwirrt zusammen. "Wie - Louisa? Woher weiß Jacky..." Er guckt Paula und Phil verwirrt an. Auch Paulas Blick wirkt nun sehr überrascht.
"Okay, gut", Phil hebt eine Hand, "ich konnte meinen Mund ein einziges Mal auf Arbeit nicht halten. Aber es ist bei Jacky geblieben."
Augenblicklich bricht Paula in ein Lachen aus. "Es hätte mich auch überrascht, wenn dir das nicht passiert wäre."
Papa sucht den Blickkontakt mit mir, und als er sieht, dass mit mir wieder alles gut ist, scheint eine große Last von ihm zu weichen. Er wendet sich nun ebenfalls freudestrahlend zu Phil und Paula. "Herzlichen Glückwunsch. Ich kann euch sagen - der wichtigste Mensch eures Lebens ist euch soeben in eure Arme gekommen." Papa zwinkert mir zu.
Ich drehe mich leicht weg, um meine erneuten Tränen zu vertuschen.

Paula ist schnell in den RTW gebracht, um dort den Rest zu erledigen und sie dann ins Krankenhaus zu bringen.
Als ich draußen stehe und realisiere, dass alles gut ausgegangen ist und die Situation durch Alex wieder an Kontrolle gewonnen hat, bahnen sich Tränen der Erleichterung an.
"Hey, es ist alles wieder gut", sagt Papa schon, während er noch aus dem RTW steigt. Mit offenen Armen kommt er auf mich zu und umarmt mich fest. "Weißt du eigentlich, wie stark du bist?", fragt er leise an meinen Kopf.
Ich hebe meine Schultern und vergrabe mein Gesicht noch etwas mehr in sein Shirt. "Wahrscheinlich nicht so wirklich stark, sonst würde ich nicht ständig weinen und ich hätte heute mehr Ruhe bewahrt."
"So ein Quatsch." Papa schiebt mich etwas von sich weg, hält mich dennoch an meinen Armen fest. "So eine Geburt ist eine emotionale Sache und sie war absolut neu und überraschend für dich. Du darfst weinen, so viel zu willst. Und außerdem warst du für alle da. Ohne dich hätte das hier noch ganz andere Wendungen nehmen können, hm?"
Ich schlucke und reibe mir über die Augen. "Aber hätte ich mich zusammengerissen und dich nicht panisch angerufen, wärst du noch bei deinem-", ich schlucke und hadere mit mir, das Wort in dieser Verbindung auszusprechen, "bei der Frau", entscheide ich mich schließlich für eine dümmliche Umschreibung der Situation.
"Fine, du bist mit Toni der wichtigste Mensch für mich. Ich würde alles stehen und liegen lassen, wenn du mich brauchst. Nichts auf der Welt würde mich davon abhalten können, um für dich da zu sein. Mach dir darüber keine Gedanken." Leicht lachend zieht er mich wieder an sich ran. "Ich werde sie sowieso nicht mehr treffen. Nachdem sie kein wirkliches Verständnis dafür gezeigt hat, dass du nun mal oberste Priorität hast und ich deswegen direkt los muss, kann ich sehr leicht darauf verzichten, mich weiter mit ihr zu treffen."
Ich kann nicht verhindern, dass mein Herz nach dieser Aussage etwas leichter wird, auch wenn sich dazu ein schlechtes Gewissen mischt.

Hinter uns räuspert sich jemand, was Papa dazu veranlasst, die Umarmung aufzulösen.
Verwundert runzelt er die Stirn und guckt an mir vorbei. "Adrian? Was machst du denn hier?"
Auch ich drehe mich langsam um und gucke ihn kurz etwas verlegen an. "Danke für deine Hilfe", sage ich leise, mein Blick nun jedoch strikt an ihm vorbei gerichtet.
"Ähm..." Papa versteht gar nichts mehr.
Bevor eine unangenehme Stille entstehen kann, springt Adrian für uns ein. "Ich wollte eigentlich mit Josefine reden, aber dann ist eins nach dem anderen gekommen. Aber ich möchte jetzt auch nicht stören, vielleicht finden wir ja ein anderes Mal Zeit."
Ich erhasche einen Blick auf sein zaghaftes Lächeln, ehe er sich an Papa und mir vorbeischiebt und die Flucht ergreift.
"Sehr-"
"Merkwürdig", ergänze ich und nicke. "Jap, das hab ich mir auch gedacht, als er vorhin hier geklingelt hat. Aber dann hat Paula mir keine Zeit mehr gelassen, darüber nachzudenken." Ich lache auf und schiebe mir meine losen Haarsträhnen hinter die Ohren. Adrian macht mich nervös, auch wenn er gar nicht mehr hier ist.
"Warum er jetzt hier war, soll mal so dahingestellt sein, aber es ist wirklich nett und nicht selbstverständlich, dass er geholfen hat. Ich habe ihn vorhin im Wohnzimmer gar nicht wahrgenommen."
Ich nicke langsam. "Ja, ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, was ich gemacht hätte, wenn er nicht genau in dem Moment hier gewesen wäre", gebe ich zu. "Aber wie sieht es aus, fahren wir hinterher ins Krankenhaus?", frage ich schnell, um das Thema zu wechseln. Darüber kann ich mir auch später Gedanken machen, jetzt liegt das größte und vor allem schönste Augenmerk auf der neuen kleinen Familie.
"Nachher", sagt Papa und schiebt mich allmählich wieder ins Haus. Der RTW ist schon weg. "Sie brauchen erst mal etwas Ruhe und Paula und die Kleine müssen im Krankenhaus nochmal ordentlich durchgecheckt werden. Immerhin ging die Geburt ja doch früher los, als sie angedacht war."
"Muss man sich Sorgen machen?", frage ich und spüre schon wieder die Angst, die sachte nach mir greifen möchte.
Papa macht eine wegwischende Handbewegung, doch ich sehe in seinen Augen, dass es nicht ganz abwegig ist, Sorgen haben zu müssen.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt