"Du siehst total beknackt aus", stellt Anni grinsend fest.
"Na zum Glück siehst du so aus, als würdest du gleich auf einen roten Teppich gehen", gebe ich ebenfalls grinsend zurück.
Ich bewege mich knisternd zu Papa. "Fangen wir an?"
Das laute Geräusch beim Öffnen des Farbeimers scheint seine Antwort auf meine Frage zu sein."Das war", ich steige langsam von der Leiter, "keine gute Idee mit dem Müllsack. Ich schwitze."
Von Anni höre ich ein zustimmendes Brummen von der anderen Seite des Wohnzimmers.
"Ich habe ja gesagt, dass das unnötig ist, da ihr eh Klamotten anhabt, die sich einsauen können", meint Papa zum wiederholten Mal. Ich habs ja jetzt verstanden, Chef.
Ein kurzer Blick über die Schulter verrät mir, dass Anni sich inzwischen aus ihrem Kleid, welches eigentlich reif für eine Fashion week war, geschält hat.
"Ja ja, du hattest vielleicht...", beginne ich, bevor mein eigenes Wort von einem lauten Klappern verschluckt wird.
Wie bei einem Seilartist, der sein Gleichgewicht finden will, fuchteln meine Arme wild in der Luft umher, doch ich finde keinen Halt. Die Leiter kippt zur Seite, mein Körper in die entgegengesetzte Richtung.
Mein Sturz ist bei weitem nicht so laut wie der Sturz der Leiter, bei mir ist es nur ein wenig... kalt?Anstatt ein 'Ist dir was passiert?' oder ein 'Oh, das sah ja nicht so gut aus' zu hören, hören sich beide eher so an, als wollten sie sich ein Niesen unterdrücken, jedoch kläglich scheitern.
"Möchtest du die Farbe noch ein wenig einziehen lassen?", gluckst Papa unverständlich, während er vor lauter Lachen nach Luft schnappt. "Sonst sieht das ja ziemlich blass aus."
In meiner Brust hämmert es heftig; ist das alles ja schon mit einem kleinen Schock verbunden.
"Auch nur du bleibst an der Leiter hängen, oder?", bringt Anni unter gleichem Gelächter hervor."Ich... verstehe jetzt ehrlich gesagt nicht wirklich, was daran so witzig ist", murmele ich leise und rappele mich langsam auf. Als ich meine Hand aus dem Farbeimer ziehe, erinnert mich das Bild irgendwie ans Kerzenziehen in der Grundschule. Nur mit dem Unterschied, dass Wachs etwas dünnflüssiger war.
Papa dreht die Musik leise. "Alles gut bei dir?", fragt er nun auch mal, schwingt dennoch zwischen krampfhafter Ernsthaftigkeit und purer Belustigung.
"Geht schon", murre ich und starre auf meine graue Hand. Mein halber Unterarm ist in Farbe getunkt. Bodypainting mal anders.
Vielleicht sollte ich eher nicht erwähnen, dass mein mit Farbe überzogenes Handgelenk etwas zieht, wenn ich es jetzt doller bewege.
Mit Farbe überzogen. Meine Gedanken reichen vom gerade erwähnten Kerzenziehen bis hin zu überzogenen Früchten auf dem Weihnachtsmarkt.Da hatte Alex gestern wohl mit einer Vermutung recht - wobei diese zum Glück ziemlich harmlos ausgegangen ist. Ich meine, was ist ein vielleicht überdehntes, graues Handgelenk gegen einen möglichen Sturz von der Leiter? Es grenzt beinahe an ein Wunder, dass ich glimpflich davongekommen bin.
Papa reißt mich aus meinen sinnlosen Gedanken. "Dann geh dich mal waschen. Aber tropf bitte nicht den ganzen Weg voll, wir sind hier nicht bei Hänsel und Gretel, du findest den Weg auch ohne Spur zurück."
Etwas umständlich entledige ich mich meinem modischen Müllsack, um ihn unter meinen Arm zu halten, damit ich keinen unnötigen Dreck hinterlasse. Der den Brei bei einer Renovierung natürlich ziemlich fett machen würde. So ein bisschen Farbe auf dem Boden, die man leicht abwischen kann, um Himmels willen, das wollen wir natürlich nicht riskieren.
Nach meiner Reinigung, die doch etwas länger gedauert hat, als ich vorher gedacht hätte, folge ich der Musik, die inzwischen wieder munter aus dem Wohnzimmer dudelt.
Am Abend falle ich müde ins Bett. Renovieren ist einfach anstrengend. Wobei es zum Glück gerade kein Sommer ist. Mit warmen Temperaturen möchte ich mir das gar nicht vorstellen.
Wir sind alle mit dem Ergebnis zufrieden. Die hellgraue Wand passt super zur Einrichtung des Wohnzimmers, was auch Alex zugeben muss, der das ja alles doch etwas skeptisch gesehen hat.
Und es fühlt sich einfach verdammt gut an. Fast wie ein neues Leben. Der perfekte Neustart, wenn auch mit dem kleinen Gedanken an den Spiegel, der mich wohl erst in sechs Jahren wieder loslassen wird. Dank Alex.****
"Was machst du heute noch so?" Anni steht neben unserem Tisch und wartet auf mich.
"Ein Leben retten, weißt du?", brumme ich beschäftigt.
Dieses blöde Heft will aber auch nicht mehr in die Tasche passen. Entnervt nehme ich meine Flasche aus dem Rucksack, damit das Heft passt. Lieber mit einer Flasche in der Hand laufen, als ein Heft unter dem Arm geklemmt zu haben. Wie konnte heute Morgen noch alles reinpassen?
"Muss gleich Richtung Stadt. Du weißt, ein Geschenk macht sich nicht von allein", gebe ich dann doch noch eine ernste Antwort. Ich zwinkere ihr zu.
"Ich kann dich ja begleiten."
"Nee nee, das lässt du schön bleiben", wende ich ab. "Aber wir müssen mal wieder shoppen gehen."
"Klar, nächstes Wochenende? Weißt du eigentlich schon, was du für ein Geschenk kaufen möchtest?", fragt sie interessiert und betont beiläufig.
"Ja und ja. Aber das werde ich dir nicht verraten, ich bin doch nicht blöd. Und dann können wir ja nächstes Wochenende zusammen Weihnachtsgeschenke kaufen."
"Menno, hätte ja klappen können."
Ich verdrehe meine Augen. Sie konnte das noch nie leiden.Freundlich begrüße ich den Busfahrer und halte ihm meine Fahrkarte hin. Dieser nickt jedoch nur mit einem Gesicht, welches von schlechter Laune nur so überläuft.
Da will man einmal freundlich sein ... Auch nicht richtig.Die Musik lässt mich fast im Takt mitwippen, so gut ist meine Laune. Grinsend scrolle ich durch meine Galerie, um noch die letzten Fotos für Annis Geschenk rauszusuchen. Paula wollte mich eigentlich begleiten, aber sie musste kurzfristig in der Klinik einspringen. Meine Laune ist trotzdem unschlagbar.
An einem Foto bleibe ich besonders lang hängen. Ursprünglich habe ich alle Bilder von Tim und mir gelöscht, aber da ist mir anscheinend eines durch die Lappen gegangen.
Tim hat in meinem Leben nichts mehr zu suchen.
Mein Daumen schwebt über dem Button 'Löschen'. Mit einem Klick ist das Bild in den Papierkorb verbannt.
Damit lösche ich zwar nicht die Erinnerungen, aber immerhin wird es so immer einen Ticken leichter.Immer wieder grinse ich dämlich vor mich hin. Die Bilder sind einfach zum Schießen.
An der Station, bei der ich aussteigen muss, angekommen, stehe ich auf und verlasse schnell den Bus.
Aber ich wäre ja nicht ich, wenn das problemlos verlaufen würde. Eine Betonplatte auf dem Boden steht etwas nach oben ab, ich sehe die Ecke nicht und rechne schon damit, dass ich mich voll hinpacke. Direkt neben dem Bus, kaum peinlich.
Mein Spiegel, oder wer auch immer dafür verantwortlich war, hat anscheinend ein schlechtes Gewissen, denn bevor ich wirklich fallen kann, packt mich jemand am Arm.---------------
Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)
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7 Jahre Pech (Asds) |2/2|
Fanfiction|2/2| ~Der zweite Teil von '7 Jahre Pech'. Um die Zusammenhänge verstehen zu können, ist es notwendig, den ersten Teil gelesen zu haben.~ Josefine hat das erste Jahr Pech nach ihrem Spiegelunglück überstanden - wenn auch ziemlich chaotisch. Doch m...