53 - Nur eine falsche Frage

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Adrian hält meinen Blick für eine kurze Ewigkeit fest, ehe er ihn schnell wieder auf seine Pizza richtet und sich räuspert.
"Ich denke, da gibt es nicht viel, was du wissen musst", beginnt er und stopft sich schnell einen Bissen Pizza in den Mund, um nicht reden zu müssen.
"Irgendwann", sage ich und nicke leicht, "irgendwann werde ich noch hinter diese Fassade gucken. Ich glaube nämlich, dass du gar nicht so ein mürrisches Arschloch bist, wie du es immer zeigst."
Interessiert zieht er seine Augenbrauen in die Höhe, hält es aber weiterhin nicht für nötig, mich anzugucken. "Wie willst du das anstellen? In nicht mal einer Woche bist du hier weg."
"Deine Mühen sind umsonst", möchte ich ihm vor Augen führen. "Wenn ich mir etwas in den Kopf setze, dann bekomme ich das auch heraus." Und dann, wie aus dem Nichts, brettert mir ein Gedanke auf Höchstgeschwindigkeit in meinen Kopf. Brennt sich neben Toni ein. "Also meistens", ergänze ich leise und schlucke. Tag für Tag schrumpfen meine Überzeugung und Hoffnung, dass ich jemals etwas über meine Mutter erfahre.

So gern ich es auch tun würde; ich bin zu schwach.
Zu schwach, um dieser Last auf meinen Schultern einen Widerstand zu bieten.
Zu schwach, um mit positiven Gedanken ein Feuer zu eröffnen.
Zu schwach, um immer wieder schlucken zu können und ein Lächeln aufzusetzen.
Zu schwach, um nach dem Motto 'Fake it until you make it' zu gehen.
Jeder stößt mal an seine Grenzen. Und wenn ich alle Grenzen addiere, an die ich im letzten Jahr gestoßen bin, dann bin ich schon Meilen über diese Grenze hinausgeschossen.
Es sollte sich nicht so gewohnt, ja beinahe schon versöhnlich anfühlen, wenn die Wangen von Tränen überflutet werden. Doch es fühlt sich nach Gewohnheit an.
Mein einziges Ventil.
Meine einzige Möglichkeit, meinen Körper für kurze Zeit zu entlasten.
"Ich will nach Hause", quäle ich mich ab und bringe es über meine Lippen. "Einfach in das gewohnte Umfeld. Ich komme damit nicht mehr klar."
Adrian scheint sich überrannt zu fühlen. Er starrt mich hilflos an.
Natürlich, das war gerade völlig aus dem Kontext gerissen.

Im nächsten Moment greifen auch die Zweifel nach mir.
Wäre es zu Hause wirklich förderlich? Wenn ich an jeder Stelle an Toni denken muss?
Aber das muss ich auch hier.
"Ich..." Adrian fährt sich durch seine Haare, die noch immer nicht so wollen, wie er will. "Du..."
Ich winke ab. "Ist okay. Kannst du mir bitte was über dich erzählen?", suche ich nach Ablenkung und beiße aus Frust ein weiteres Mal vom Pizzastück ab.

Er lehnt sich zurück. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sein Blick nun doch durchgängig auf mir ruht. Besorgt, mitleidig... Aber besonders ist es dieses Einfühlsame, was sich auf meinen ganzen Körper überträgt. Es fühlt sich so an, als würde er mich verstehen. Als würde er wissen, was in mir vorgeht. Und dieses Gefühl habe ich selten, wenn es sich nicht um Menschen handelt, die unmittelbar an meiner Situation hängen.

"Ich heiße Adrian", beginnt er und muss leise auflachen. "Noch keine zwanzig Jahre alt, wie du denkst. Ich werde im April zwanzig, aber na ja, du bist ja nur knapp daran vorbei."
"Macht den Brei jetzt auch nicht fett", nuschle ich mit vollem Mund.
Er stimmt mir zu. "Was du vielleicht noch nicht wusstest, ist, dass ich eine Ausbildung mache."
"Jetzt wird es aber interessant", sage ich gespielt interessiert. "Was denn für eine?"
"Manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich ein Seelsorger."
Mein Kopf schnellt zur Seite. "Du musst das hier nicht machen. Ehrlich. Fühl dich nicht verpflichtet, dich um mich zu kümmern."
Er wackelt mit seinen Augenbrauen. "Der grimmige Igel wirkt aber so hilflos, da kann man nur helfen."
"Du bist richtig scheiße, wusstest du das?"
"Was ein Umschwung", sein Lachen spendet mir Wärme, die das Eis in mir zum Schmelzen bringt, "aber weiter im Thema. Dann bin ich also noch scheiße, das solltest du vielleicht wissen." Sein verschmitztes Lächeln lässt auch meine Mundwinkel zucken.
Und in mir keimt die Hoffnung auf, dass ich den Abend vielleicht wirklich genießen kann.
Mit einem bitteren Beigeschmack, aber immerhin etwas Ablenkung.

Kichernd halte ich mir den Bauch. "Ich kann nicht mehr. Hör auf", flehe ich und lasse mich in mein Kissen sinken. "Kannst du noch?" Ich deute auf meine Pizza. Nur die Hälfte hat es in meinen Magen geschafft, doch für Adrian scheint das ein zufriedenstellendes Ergebnis zu sein.
Freudig nimmt er mir die Pizza vom Schoß. "Essen kann ich immer", kommentiert er, ehe er schon damit beginnt, auch meine Reste zu vernichten.
"Also ein weiterer Fakt. Du isst viel. Isst du auch alles?"
"Mh", brummt er und schluckt. "Bei Insekten hört der Spaß auf. Aber sonst... So ziemlich, ja."
Unwillkürlich erscheint eine Erinnerung vor meinen Augen. In einem unserer jährlichen Italienurlaube haben Toni und Alex mal geröstete Insekten gegessen.
Während die beiden genüsslich eine Heuschrecke verzehrten, kam Phil nicht mehr aus dem Würgen heraus, und ich musste schließlich mit ihm weggehen, damit er nicht den Boden beglückt.
Die plötzliche, so scharfe Erinnerung an Toni lässt meine Stimmung sofort kippen. "Hast..." Ich fummle nervös an einem Zipfel meiner Bettdecke. Dass mir solch eine simple Frage irgendwann mal so schwer fallen wird, hätte ich nie im Leben gedacht. "Hast du Geschwister?" Eine Frage, die man eigentlich ziemlich früh stellt, die wir beide in den letzten anderthalb Stunden jedoch gepflegt umgangen sind. Aus gegebenem Anlass.

Doch als auch seine Stimmung kippt, werde ich stutzig.
Sein Lächeln verschwindet. Und damit auch das Grübchen, welches er nur rechts hat.
Ich habe gerade wohl einen Schlüssel gefunden. Fehlt nur noch die passende Tür.
Langsam setzt er zu einem Nicken an. "Ich habe einen kleinen Bruder. Er ist zehn."
Bevor ich etwas erwidern kann, steht er schnell auf. "Ich bringe mal die Kartons weg."
Obwohl er meine Pizza noch nicht aufgegessen hat. Ist ihm mit dieser Frage der Appetit vergangen? Aber was muss passiert sein, dass er darauf so reagiert?

Adrian sammelt auch Mareikes leeren Karton ein. Sie liegt mit Kopfhörern in ihrem Bett und scheint einen Film zu gucken.
Ich fühle mich plötzlich so leer. Ich schüttle mich kurz.
Mareike regt sich neben mir und setzt sich auf. "Ist alles okay?", fragt sie irritiert, als Adrian die Tür hinter sich zugezogen hat.
Ratlos hebe ich meine Schultern. "Keine Ahnung, was jetzt ist. Die Frage nach Geschwistern hat ihn irgendwie aus dem Konzept gebracht. War wohl nicht sein Ziel", schätze ich verwirrt.
"Dir muss die Frage gerade doch schwerfallen", findet Mareike und guckt mich fragend an.
Was soll ich denn darauf erwidern?
"Leicht ist anders", murmle ich schließlich und fahre mir durch meine Haare, die ich vorhin aus einem Zopf befreit habe.
Lässt er mich jetzt so verwirrt zurück oder kommt er nochmal wieder?

Mir fällt sein Handy auf, welches er auf meinem Tisch liegengelassen hat. Er muss also nochmal zurückkommen.
Und das tut er auch nach ein paar Minuten.
Jegliche sanfte Gesichtszüge sind verflogen, dafür guckt er wieder mürrisch drein.
"Ich muss dann auch langsam mal. Morgen hab ich wieder Frühschicht", verabschiedet er sich hastig von mir, nickt kurz, schnappt sich sein Handy und verschwindet.
"Komischer Typ", höre ich Mareike neben mir flüstern.
Wo sie recht hat, hat sie recht.

Wie konnten wir uns so gut verstehen und trotz dieser ganzen Lage miteinander lachen, um dann mit einer ganz simplen Frage alles zu zerstören?
Eins steht fest: Morgen werde ich ihn nochmal darauf ansprechen. Und vielleicht gibt es dann ja Antworten.
Mein ganzes Leben besteht momentan aus Fragen, auf die ich keine Antworten bekomme.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt