54 - Gezählte Tage

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Hektische Flecken kriechen seinen Hals empor. Seine Hände zittern, als er das Tablett abstellt. Ohne ein Wort zu verlieren, verschwindet er wieder.
Mareike zieht ihre Stirn kraus. "Du bekommst kein Mittagessen?"
"Soll mir recht sein", brumme ich. Obwohl es sich für mich auch nicht wirklich erschließt.

Mein Vorhaben, ihn heute nochmal darauf anzusprechen, wurde sofort von seinem Ausdruck erstickt, als ich ihn am Morgen das erste Mal gesehen habe. Da würde ich lieber in einen Tigerkäfig steigen, als mit Adrian noch ein Wort zu wechseln.
Tausende passende Bezeichnungen, die nicht gerade so von Liebe oder Nettigkeit überlaufen, gehen mir für ihn durch den Kopf.
Und mit jedem Mal wird er mir unsympathischer. Vielleicht kann er nett sein, aber gestern hat er nicht zum ersten Mal plötzlich abgeblockt und wurde in einer gewissen Art unfreundlich. Das kann ich mir ehrlich sparen. Wirklich gut tut mir so ein Verhalten ja auch nicht.

"Keine Fragen mehr, nein. Alex ist ohnehin rund um die Uhr bei ihr." Bei wem? Papa kommt in mein Sichtfeld und lächelt mich an. "Ab nach Hause."
Ich verstehe gar nichts mehr.
Neben ihm steht Tabea, die einige Unterlagen in der Hand hält.
Und hintendran - Adrian. Er starrt mich ausdruckslos an.
Ich weiß mir nicht anders zu helfen und starre zurück.
In seinen Augen liegt nichts. Es ist, als würde ich geradewegs durch ihn hindurch gucken.
Nur eins wird mir in diesem Moment klar, bevor ich überhaupt realisieren kann, dass ich spontan - wirklich ziemlich spontan - entlassen werde. Antworten auf meine Fragen bezüglich Adrian werde ich schlussendlich doch nicht mehr bekommen. Das war aber auch eine unrealistische Vorstellung meinerseits. Antworten und ich?
Abgesehen von all den wirren Dingen, die mir in dem Blickduell zwischen Adrian und mir durch den Kopf gehen, wusste ich nicht mal, dass Papa heute überhaupt frei hat. Oder er hat noch Nachtschicht.
Es liegt mir, mich mit unwichtigen Gedanken abzulenken. Mehr oder weniger.

"Fine?"
"Mh?" Erschrocken reiße ich meinen Blick los und fühle mich direkt leichter. Adrians Blick war beinahe wie eine Last, die sich durch meine Erwiderung nur verdoppelt hat.
Papa hebt eine Augenbraue. "Wir haben das alle doch richtig verstanden, dass du unbedingt nach Hause möchtest, oder?"
"Äh..." Wieder fällt mein Blick auf Adrian, doch seine Miene verändert sich kein Stückchen. Es dämmert bei mir. Er muss meinen gestrigen Ausbruch angesprochen haben. Woher sollten sie das sonst wissen? "Total normal, schätze ich?", erwidere ich stattdessen. Ich meine, es ist doch total normal, dass man wieder nach Hause möchte.
Seufzend wirft er einen Blick über seine Schulter an die Wand, an der Adrian lehnt. "Ja, aber du weißt schon. Das ist bei dir gerade was anderes."
Leider weiß ich, was Papa meint. Und er hat verdammt recht.

Gemischte Gefühle breiten sich in meinem Bauch wie ein Fischschwarm aus, als ich das Haus betrete. Unangenehm, durcheinander und doch erfüllend.
Papa stellt die Reisetasche am Rand ab und dreht sich zu mir.
Etwas überfordert bleibe ich im Eingang stehen.
"Ist alles okay mit dir?", fragt er und wirkt ebenfalls etwas unruhig.
Ich nicke, kann den Kloß in meinem Hals jedoch nicht einfach schlucken.
"Komm mal her." Er überbrückt den letzten Abstand zwischen uns und nimmt mich fest in den Arm.
Ich genieße seine Umarmung in vollen Zügen.
"Die Zeit ist nicht leicht. Für uns alle ist sie die lodernde Hölle, aber wir schaffen das gemeinsam. Toni wird sich irgendwann melden oder auftauchen, daran glauben wir alle."
Papas Worte sollten mich wohl beruhigen, doch diese Hoffnungslosigkeit in seiner Stimme bewirkt das Gegenteil.
Nicht mehr als eine Träne läuft über meine Wange und saugt sich in Papas Shirt. Zu mehr bin ich nicht in der Lage. Ich fühle mich leer, kraftlos, nervlich am Ende.

Die Gabeln klappern auf den Tellern. Nur meine liegt unangerührt daneben auf dem Tisch und wird demnächst wieder in den Schrank wandern.
Blinzelnd gucke ich gegen die untergehende Sonne, die in mir alles andere als Glücksgefühle auslöst. Sie ist eher wie ein glatter Schnitt durch mein Herz. Ihr Licht fällt beinahe filmreif auf den einen leeren Platz am Tisch. Auf Tonis Platz.
Mich überkommt ein Schaudern.
"Möchtest du wirklich nichts essen?", fragt Phil vorsichtig und guckt mich über den Tisch hinweg an.
"Vielleicht nachher."
Das Nicken der anderen erstaunt mich. Keine Nachfragen, keine Bemerkungen. Sie nehmen es so hin und essen still weiter.

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt