57 - Erster und letzter Hinweis?

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"Jo-josefine?"
Die Qualität des Tons lässt zu wünschen übrig. Im Hintergrund rauscht es und ich kann die Stimme nur schlecht verstehen.
Mein Hals schnürt sich auf der Stelle zu. Ich kenne diese Stimme, kann sie auf die Schnelle jedoch nicht zuordnen.
"Ja", antworte ich und hoffe, auch einen Namen zu bekommen.
Ein erleichtertes Ausatmen ist zu hören. "Gut, hör zu. Ben hier." Ben, ja, das sagt mir etwas. Ein Bild schiebt sich in meinen Kopf. "Er wird mich umbringen, wenn er das jemals erfährt, aber-" Ein lauter Schrei unterbricht ihn. "Fuck", höre ich ihn fluchen. Er schnauft, als wäre er gerade über die Ziellinie eines Marathons gerannt. "Ich hab keine Zeit, aber ich wollte sagen, dass mit Toni den Umständen entsprechend alles gut ist. Er..." Wind pustet ins Mikrofon, kommt laut raschelnd bei mir an. "Er wollte mir nur he..." Es scheppert. Wieder ein Schrei.
"Du verdammter Mistkerl!", schreit jemand.
Und dann kommt das dröhnende Piepen. Telefonat beendet.

Mein Mund ist ausgetrocknet. Verstört lasse ich mein Handy langsam sinken, starre Papa ins Gesicht.
Ich schlucke. Das Ergebnis ist ernüchternd. Meine Zunge liegt wie ein Stück Schmirgelpapier in meinem Mund, an meinem Hals kratzen Sandkörner lang, wenn ich schlucke.
"Fine?"
Toni. Wo ist er hineingeraten? Aber er lebt. Er lebt? Er muss leben. Sonst hätte Ben mir das doch gerade nicht gesagt.
Er wird mich umbringen, wenn er das jemals erfährt.
Also muss er noch leben. Und dazu fähig sein, irgendetwas zu erfahren.
"Josefine!" Papa rüttelt an mir. "Was ist los?"
"Ben", bringe ich in einem einzigen Kratzen hervor.
"Ben?", wiederholt Papa mit aufgerissenen Augen. "Was ist mit ihm?"
"Er..." Wieder schlucke ich einen Haufen Sandkörner und muss husten. "Er hat mich angerufen." Ich zittere, befürchte, dass meine Zähne gleich auch noch klappern. "Toni muss leben."
Jemand schnappt nach Luft. Die Welt steht still.
"Fine, ganz ruhig", sagt Papa alles andere als ruhig, "was hat Ben gesagt?"
"Dass..." Alles dreht sich. Ich habe den Anschluss verloren. Weiß nicht mehr, wo vorne und hinten ist. "T-Toni wird ihn umbringen, w-wenn er erfährt, dass B-Ben mich a-angerufen hat." Einzelne Schluchzer entweichen mir, obwohl die Tränen fehlen.
"Was ist noch passiert?"
"Geschrei. Als wäre Ben geflüchtet. Und dann..." Meine Gedanken kreisen. Mir entgleitet das Gespräch immer mehr. "T-Toni wollte ihm nur helfen?"

Ben. Ben ist Tonis bester Freund. Sie kennen sich seit der ersten Klasse. Etliche Male ist er zu uns gekommen.

"Und dann? Was ist dann passiert?", schaltet Phil sich mit ein und setzt sich an meine andere Seite.
"Abgebrochen", sage ich trocken. "Einfach abgebrochen."
Nicht einfach. Da steckt viel mehr dahinter. Zu viel.
Wir wissen nicht, wo Toni steckt. Was er mit dieser Sache zu tun hat, mit welcher Sache auch immer. Wir wissen nichts, rein gar nichts. Nur eine Sache: Toni lebt.

Wir drehen uns im Kreis. Rennen in einem Hamsterrad. Wir kommen an die Grenzen des Möglichen, stolpern direkt in die Erschöpfung, doch bewegen uns gleichzeitig keinen Meter vom Fleck.
Immer wieder rufe ich ab, dass Toni lebt. An dieser Sache habe ich die letzten Tage gezweifelt, immerhin hätte alles passiert sein können. Doch mit diesem einen Fakt hat es tausende neue Fragen gehagelt, die uns schmerzhaft getroffen haben.
Was können wir damit denn anfangen? Nichts, schätze ich. Rein gar nichts.
Aus welcher Lage wollte Toni Ben helfen? Immerhin hat sich das am Telefon alles nicht ganz so nach einem Tobeland für Kinder angehört. Eher nach einem blutrünstigen Geschäft.

Die Zeit vergeht. Stunde für Stunde und wir sitzen nur auf der Couch.
Wissen nicht, was wir mit uns anfangen sollen, wissen nicht, was wir von diesen spärlichen Informationen haben.
"Das kann doch alles nicht sein", flucht Papa. "Ben war doch immer ein anständiger Junge. Worin soll er bitte verwickelt sein?"
"Drogengeschäfte?", schlägt Alex vor.
"Fine, hast du gehört, wo Ben sich aufgehalten haben könnte?", fragt Phil.
Ich schüttle langsam meinen Kopf und räuspere mich, um überhaupt ein Wort zustande zu bringen. "Der Empfang war schlecht. Mehr weiß ich nicht, ehrlich."
Die darauffolgenden Mienen rutschen alle ratlos ab.
Keine Hinweise, habe ich ja bereits gesagt.

Weitere Wortwechsel fallen karg aus. Paula liegt in Phils Armen, doch nicht mal das hilft ihr, wenn ich ihren Gesichtsausdruck beurteile. Und auch Phil hat sein Gesicht gequält verzogen, während er gedankenverloren über Paulas Bauch streichelt.
"Komm, lass uns langsam mal ins Bett gehen", meldet sich Papa zu Wort und tätschelt mir meinen Rücken.
Es ist wirklich schon spät geworden, aber an Schlaf denke ich jetzt wohl eher als letztes.
Brummend drücke ich mich näher an Papa.
Sein Seufzen klingt schon fast eine Spur gereizt. "Josefine, los jetzt. Ich würde gern schlafen gehen."
"Nein."
"Wie alt bist du?" Mit Leichtigkeit drückt Papa mich nach oben. "Wir gehen jetzt Zähne putzen. Und danach bin ich im Bett, was du auch sein solltest."

Ich bin schlussendlich auch im Bett gelandet - jedoch liegt Papa neben mir. Es könnte nachts ja etwas passieren, wovon keiner etwas mitbekommt, wenn Papa allein ist.
"Denkst du, wir hätten die Polizei rufen sollen?", frage ich in die Dunkelheit.
"Ich weiß es nicht", antwortet er wahrheitsgemäß. "Einen wirklichen Anhaltspunkt hätten wir ja nicht gehabt."
Ich drücke mich wieder fester an ihn. Die Wahrheit tut einfach weh. Mir könnte auch gleich jemand ein Messer in die Brust rammen. "Was ist, wenn Toni nie wieder kommt? Wenn ihm doch noch etwas passiert? Wenn er gar nicht in Sicherheit ist?" Von Wort zu Wort nimmt meine Stimme ein stärkeres Zittern an und wird schließlich von Tränen erstickt.
"Denk nicht daran", flüstert Papa und streicht mir über den Kopf. "Er wird wieder auftauchen. Unbeschadet. Ich..." Auch sein Atem zittert. "Schlaf gut", fährt er fort, statt seinen begonnenen Satz zu beenden.
Ich spüre seine Lippen an meiner Stirn - sie zittern.
Ich spüre seine Hand an meiner - sie zittert.
Papa ist sich in keinem Wort sicher, welches er mir hier sagt. Er wird nicht weniger von der Unsicherheit und vor allem Ungewissheit beherrscht.
Vielleicht sagt er das ja auch, um sich selbst Hoffnungen zu machen, doch seine Versuche münden alle ebenfalls in purer Verzweiflung.

Mitten in der Nacht, ich habe keine Ahnung, wann ich endlich geschafft habe, einzuschlafen, schrecke ich auf. Mein Schlaf ist seit Tonis Verschwinden viel zu leicht.
Papa dreht sich neben mir brummend um und denkt gar nicht daran, aufzuwachen.
Auf meinem Nachttisch liegt Papas Handy, welches schrill klingelt.
Ich brauche eine kurze Zeit, ehe ich den Namen auf dem Display entziffern kann.
Paul.
Was möchte Paul denn um diese Uhrzeit von Papa?
"Papa, aufwachen." Ich rüttle an seiner Schulter.
"Was?", nuschelt er verschlafen und richtet sich langsam auf.
Bevor er seine Augen überhaupt richtig geöffnet hat, drücke ich ihm schon sein lautes Handy in die Hand.
"Paul ruft an."
Es ist nicht mal mehr eine Frage von Sekunden, ehe er seine Augen aufreißt und auf sein Handy starrt. "Paul?", wiederholt er unnötigerweise und nimmt ab. "Paul, was ist los?"
Mein Wecker auf dem Nachttisch zeigt drei Uhr an. Eine normale Uhrzeit ist definitiv anders.

Im Schein meiner inzwischen angeknipsten Nachttischlampe sehe ich, wie Papa immer mehr die Farbe aus dem Gesicht schwindet.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt