77 - Die Nadel im Heuhaufen

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Die Scheibe Brot auf dem Teller vor mir wird nicht ansprechender, obwohl ich sie schon seit guten zehn Minuten anstarre. Auch das Stück Butter neben ihr kommt mir eher vor wie ein Stück Knete. Ungenießbar.

Die Stimmung beim Abendbrot ist das Sinnbild einer Klassenfahrt. Aufgeregtes Getuschel der Mädchen, lautes Gelächter bei den Jungs. Und dann, ganz am Rand, abgeschirmt vom Rest der Klasse, das Kind, welches immer allein sitzt und nie den Mund anderen gegenüber öffnet, wenn es nicht gerade um Leben und Tod geht – ich. Es ist keine Freude, diese Rolle in diesem Bild einzunehmen, und schon jetzt fühle ich mit jedem Kind mit, welches immer solche Situationen erleben muss.

„Noch ein bisschen warten und dein Brot verschimmelt. Vom Anstarren wird es auch nicht saftiger."
Ich falle aus meiner Gedankenwolke. Alex hat mir gegenüber Platz genommen.
„Hier ist doch noch frei, oder?", hakt er mit einem zurückhaltenden Lächeln nach.
Knapp nicke ich ab. „Für dich habe ich immer Platz." Kaum merklich schiebe ich meinen Teller noch etwas von mir weg.
Ich muss Alex nicht angucken, um zu wissen, dass sein Blick auf mir ruht.

„Liegt es daran?" Er schiebt mir einen zerknitterten Zettel zu.
Verwirrt hebe ich meine Augenbrauen. „Was ist das?"
Ich weiß ganz genau, worum es sich handelt. Viel mehr interessiert mich, wie er an den Zettel herangekommen ist. Habe ich ihn nicht weggeschmissen?
„Die Frage kannst du dir allein beantworten", bemerkt er richtig. „Ich wollte das Mückenspray, welches Paula bei dir in den Koffer gepackt hat. Deswegen hab ich Anni nach eurem Zimmerschlüssel gefragt, bin schnell rein und über den Zettel gestolpert, der zusammengeknüllt direkt hinter der Tür lag."

Somit hat er meine eigentliche Frage beantwortet. „Und du dachtest dir, dass du den einfach mal lesen kannst?" Mit angehaltener Luft presse ich meine Lippen aufeinander. Mir fällt es schwer, ruhig zu bleiben.
„Na ja, ich wollte gucken, ob der wichtig ist oder in den Müll kann." Behutsam, als wäre die Scheibe Brot zerbrechlich, belegt er diese mit Käse.
Meine Lippen beginnen zu schmerzen. „Ach, das hast du zu entscheiden? Und überhaupt: Warum kramst du einfach in meinem Koffer? Du hättest mich auch fragen können."
Nun trifft Alex' Blick zum ersten Mal meinen. Sein Kopf liegt schief. „Wir wissen beide, dass das kein Problem für dich ist", seufzt er. „Und bitte mache daraus jetzt keinen Elefanten. Ich will dir deine ganzen komischen Gedanken nehmen und dir sagen, dass keine deiner Vermutungen stimmt."
Ungläubig gucke ich ihn an. „Was ist dann mit ihr?"
Er runzelt die Stirn. „Nichts", sagt er kopfschüttelnd. „Ich weiß wirklich nicht, wie du darauf gekommen bist, dass da etwas sein könnte."
„Ach Alex. Ich kenne dich inzwischen ein paar Jährchen. Und wir sehen uns nicht gerade selten. Dein Verhalten spricht mehr als tausend Worte."
„Ich weiß nicht, wovon du redest. Ehrlich. Astrid ist für mich eine fremde Frau, die ich noch nie zuvor gesehen habe." In einem Zug trinkt er sein Glas Wasser aus. „Bin gleich wieder da", er wackelt mit seinem leeren Glas, „und bis dahin glaubst du mir hoffentlich, dass da nichts ist."
Mit verzogenem Mund steht er auf und entfernt sich vom Tisch.

Da fällt mein Blick auf sein Handy, welches er liegengelassen hat. Es gibt ein Brummen von sich, welches den ganzen Tisch vibrieren lässt.
Es muss die Ungewissheit sein, die meine folgende Handlung lenkt. Außerdem hatte Alex nie etwas dagegen, wenn ich ungefragt an seinem Handy war. Und deshalb tippe ich auch jetzt zweimal auf den schwarzen Bildschirm, um zu sehen, wer ihm geschrieben hat.
Doch bezahlt wird meine Neugierde und gleichzeitige Ratlosigkeit nicht. Im Gegenteil – ich zahle mit noch mehr offenen Fragen.
Bitte pass auf, dass sie davon nichts erfährt. Sonst kommt vieles auf uns zu."

„Erst muss ich kurz vor Abreise erfahren, dass meine Mutter, die ich nie gekannt habe, nicht mal mehr theoretisch existiert, und dann gibt es plötzlich auch noch so ein riesiges Geheimnis?" Unruhig tigere ich im Zimmer herum.
Anni sitzt auf ihrem Bett, hat ihre Beine übereinandergeschlagen und ihren Blick auf ihre Hände fixiert. „Okay, es fällt mir nicht leicht, das jetzt zu sagen. Aber du hattest wohl wirklich recht und da ist irgendwas im Busch", gibt sie klein bei.
Abrupt bleibe ich stehen. „Danke! Ich hab jetzt auch schon lang genug probiert, dir das beizubringen."
„Aber..." Anni macht eine kurze Pause. „Es ist doch eher wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Alex wird seinen Mund nicht aufmachen. Und sein Handy kannst du auch nicht nach Nachrichten durchforsten."
„Kann ich vielleicht nicht", bestätige ich. „Aber ich kann mit Astrid reden."
„Und dann? Worüber willst du mit ihr reden?"
Ich hebe meine Schultern. „Das nennt sich Improvisation."
Anni schnaubt. „Darin warst du noch nie gut, das weißt du."
„Pscht. Das kann ich jetzt nicht gebrauchen. Ich mach das schon irgendwie. Manchmal kommen Dinge auch schon von ganz allein."

Mit vollster Kraft strahlt die Sonne auf uns herab. Ich weiß nicht, ob es nur Einbildung ist, doch mit jedem Schritt, den wir weiter nach oben gelangen, wird mir wärmer.

Unauffällig wische ich über meine Schläfen, die nicht mehr Sahara ähneln, wie es meine Haut sonst immer tut. Anders sieht es dem Gefühl zu urteilen momentan in meinem Mund und Hals aus.
„Zieh doch mal deine Strickjacke aus. Das kann man sich ja gar nicht mit angucken", kommt es von Anni, die an meiner linken Seite läuft.
„Passt schon", winke ich ab, schiebe meine Ärmel jedoch noch etwas höher, wenn das überhaupt noch möglich ist.
Nur ungern trete ich aus meiner Komfortzone und ziehe meine Strickjacke aus. Es ist etwas, das ich noch nie mochte. Und deswegen gehört der Sommer auch nicht zu meinen liebsten Jahreszeiten.

Schon seit den zwei Stunden, die wir unterwegs sind, gibt es in meinem Kopf nur noch eine einzige Grübelei. Wie kann ich Astrid ansprechen. Oder eher womit, denn der Beginn wäre dann wohl das geringste Übel.

Immerhin kann ich sie nicht mit der Frage überfallen, ob sie Alex kennt. Oder ob sie mal in der Nähe von Köln gewohnt hat. Außer Fragen von anderer Seite würde mir das wohl gar nichts bringen.

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Ich habe es auch mal wieder geschafft.

Ich hoffe, so wie immer, dass das nächste Kapitel nicht allzu lang auf sich warten lässt. Versprechen kann ich jedoch nichts.

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt