84 - Die Verwirrung vor der Auflösung

1.2K 78 20
                                    

Alex' Sicht

Wenn ich nicht möchte, dass Fine sich von mir hintergangen fühlt, dann muss ich jetzt handeln. Doch ich kann nur hier auf diesem unbequemen Plastikstuhl sitzenbleiben und Wurzeln schlagen. Und langsam wird mir auch klar, dass ich es nicht mehr retten kann. Es muss so kommen.

Die Schritte nähern sich uns zielstrebig. Alles in mir weigert sich, der Realität ins Auge zu sehen, gleichzeitig kann ich nicht wegschauen.
„Ich wollte mich nach Josefine erkundigen. Es sah ja wirklich nicht gut aus." Die Schritte kommen vor mir zum Stehen.
Ich blicke an Astrid vorbei, suche nach Worten in meinem Kopf, die eine gute Antwort für sie bilden können. Und dann beschließe ich, alles auf Phil zu setzen, der in diesem Moment hinter ihr wieder auftaucht. Seine Haut so weiß wie nach unseren beliebten Mehlschlachten mit Fine in der Küche.
Was macht sie hier?', formen seine Lippen lautlos. Unnötig, denn was soll sie hier anderes machen wollen, als sich nach Fine zu erkundigen.

Mit einem leisen Ächzen richte ich mich auf. Nun sehne ich mich doch nach einem Bett, in dem ich keine Sorgen haben muss. Einfach liegen und über belanglose Dinge des Alltags nachdenken. Davon bin ich momentan jedoch elendig weit entfernt – und mir wird gerade alles zu viel.
„Frau Gerlach kann Ihnen bestimmt weiterhelfen", sage ich, während ich mich langsam erhebe. Jede zu schnelle Bewegung würde für mich gerade unangenehme Folgen haben. „Mir geht es selbst nicht so gut, wie Sie eventuell sehen können." Räuspernd setze ich vorsichtig zu meinem ersten Schritt an, doch der Kloß in meinem Hals will nicht verschwinden.
Verwundert blickt sie zu mir, dann zu Frau Gerlach. „Wir waren doch schon beim Du", erwidert sie dann leise, sodass ich davon ausgehen kann, dass nur ich das gehört habe.
Ein kribbelnder Schauer fährt mir über den Rücken, der mich leicht zucken lässt. Noch nie bin ich einer Frau begegnet, die so allergisch darauf reagiert, wenn sie gesiezt wird. Eine weitere, durchaus unangenehme und aufdringliche Eigenschaft von ihr. Neben vielen anderen, die ich mir denken kann, spätestens seit dem einen Gespräch abends vor der Jugendherberge.

Josefines Sicht

„Ich bin bei dir, Süße." Eine sanfte Berührung an meiner Hand fährt auf und ab und die Stimme dazu gibt mir ein Gefühl der Sicherheit.

Langsam gleitet mein Blick durch den Raum. Das Bild meines Vaters wirkt noch etwas verschwommen, doch je öfter ich blinzle, desto klarer wird meine Sicht. Nur schemenhaft spielt sich in meinem Kopf eine Szene ab, die hier in diesem Zimmer schon passiert sein muss. Mein Vater kommt dabei jedoch nicht vor. Ich war allein mit fremdem Pflegepersonal. Ich schlucke - mein Mund ist trocken, fühlt sich beinahe sandig an.
Voller Sorge verzieht Papa sein Gesicht. „Möchtest du einen Schluck trinken?"
Ich nicke und probiere, mich aufzurichten. Ein stechender Schmerz fährt dabei durch meinen Bauch und bringt mich dazu, meinen Versuch schnell wieder zu unterbinden. Die Wirkung meines Anlaufs gleicht einem Brandbeschleuniger, der meiner Übelkeit beigefügt wurde. So leicht die Übelkeit vorher in mir schlummerte, nun scheint sie wie ein großes Feuer in mir zu entfachen.
„Warte, ich helfe dir." Papa dreht sich um und stützt mich etwas nach oben, sodass ich vorsichtig ein paar Schlucke zu mir nehmen kann.

Und er wäre nicht mein Vater, wenn er nicht wüsste, wie ich auf Narkosen reagiere. Kaum passiert die kleine Menge Wasser meinen Magen, sträubt er sich, dieses zu akzeptieren. Die bereitgehaltene Nierenschale fängt glücklicherweise alles auf. Doch mein Bauch schmerzt durch diese Anstrengung nur noch mehr.
Die Sorgenfalten auf seiner Stirn werden tiefer. „Du brauchst ein Mittel gegen Übelkeit, das tut der Wunde an deinem Bauch nicht gut, wenn du dich noch mehr übergeben musst."

Ich weiß nicht, warum mein Bauch wehtut. Ich weiß nicht mal ansatzweise, was überhaupt passiert ist. Ich weiß nur, dass ich operiert wurde.

Lange Minuten vergehen, in denen ich jedoch immer klarer werde. Das Mittel gegen Übelkeit wirkt schnell und die Schmerzen im Bauch lassen nach, nachdem mir auch noch eine Dosis Schmerzmittel verabreicht wurde.

Schweigend gucke ich zu Papa, der nach Möglichkeit ununterbrochen meine Hand hält und immer wieder wiederholt, welche Sorgen er sich um mich gemacht hat.
„Ich bin doch wach", antworte ich irgendwann. Inzwischen bin ich etwas aufrechter im Bett, soweit es meine Verletzungen eben zulassen. „Und mir geht es sogar ganz okay, jetzt nach den Medikamenten. Mein Kopf fühlt sich aber noch ziemlich duselig an."
„Duselig", wiederholt Papa leicht schmunzelnd. „Dass er sich nur duselig anfühlt, hast du Alex zu verdanken."

Verwirrt runzle ich meine Stirn, doch die Antwort lässt nicht lang auf sich warten. Ein sehr aufgebracht wirkender Alex betritt in großen Schritten das Zimmer. Sein Atem geht viel zu schnell und unterstreicht den Schrecken, der mir durch seinen Anblick eingejagt wird. Das meint Papa wohl damit, dass ich ihm meinen duseligen Zustand zu verdanken habe.

„Was hast du denn angestellt?" Nun bin ich an der Reihe, meiner Sorge vollen Ausdruck zu verleihen.
Schwerfällig lässt Alex sich auf einen Stuhl am Tisch fallen, der meinem Bett gegenübersteht, und greift sich an den Kopf. „Versucht, dich zu retten. Das habe ich angestellt", antwortet er einen Ton zu hoch. Irgendetwas stimmt hier nicht. „Aber ich habe leider versagt, wie man sieht. Du hättest hier nicht so landen dürfen."

Leichte Überforderung macht sich in mir breit.
„Alex!", sagt Papa erbost, bevor ich überhaupt meine Stimme wiederfinden kann. „Du hast ein wahrscheinlich nicht ganz so leichtes Schädelhirntrauma. Hättest du dich nicht geistesgegenwärtig so eingesetzt, wäre es Fine gewesen, die mit einer Verletzung mehr hätte kämpfen müssen. Und du weißt sogar besser als ich, was jede weitere Verletzung, gerade am Kopf, hätte bedeuten können."
Sprachlos lassen sie mich hier sitzen und gucken sich schweigend in die Augen. Mein Kopf schafft es noch immer nicht, das Geschehen zu rekonstruieren, doch ich merke, dass ich Alex sehr viel zu verdanken habe. Allein sein Aussehen zeigt mir das mehr als deutlich.

Etwas Undurchdringliches liegt in Alex' Blick. Es scheint so, als würde er Papa damit stumm etwas sagen wollen, doch dieser sieht nicht gerade aus, als verstehe er die Nachricht dahinter.

Nach einer Weile bricht Alex das Schweigen. „Ich weiß. Aber vielleicht hätte ich mehr machen können. Und dieser Gedanke hat sich in meinem zermatschten Schädel festgesetzt."
Verständnislos schüttelt Papa den Kopf, kommt aber zu keiner Antwort, denn ein zaghaftes Klopfen nimmt ihm den Vortritt.
Keiner von uns sagt etwas. Zumindest nicht im verbalen Sinne, denn wenn ich mir Alex' Augen angucke, sehe ich die Stimmung, die in ihm umschlägt. Gerade war er noch unlesbar für mich, doch jetzt strahlt er panische Hektik aus. In mir kommt die Befürchtung auf, dass er schwerwiegendere Folgen davongetragen hat, als er sich eingestehen will.

Die Befürchtung verstärkt sich, als er sich keineswegs entspannt, nachdem klar ist, dass es nur Astrid ist, die mein Zimmer betritt. Im Gegenteil – er springt auf, fällt im nächsten Moment jedoch zurück auf den Stuhl.
Meine Sorge um Alex steigt. Hat er Wahnvorstellungen? Was denkt er denn, wer dieses Zimmer gerade betreten hat? In meinem Kopf arbeitet es. Oder.... Hat sie etwas mit meinem Unfall zu tun?

„Wie geht es dir?", fragt Astrid und durchbricht die Reihe an Gedanken in meinem Kopf. „Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht, der Unfall sah alles andere als leicht aus."
„Mir geht es den Umständen entsprechend", antworte ich mit einer leichten Unsicherheit, denn diese ganzen Umstände passen für mich nicht mehr zusammen.
Papas Blick enteist sich von Alex – und friert sich direkt an der nächsten Person fest. Astrid. Oder an Phil, der atemlos hinter Astrid im Zimmer zum Stehen kommt. Ich kann es nicht unterscheiden. Ich kann gar nichts mehr unterscheiden. Die Situation gleicht einer reinen Reizüberflutung. 

-----------

Ich verspreche, dass das das letzte Kapitel ist, in dem ich um den heißen Brei schreibe. Vorher habe ich einfach nie eine gute Überleitung gefunden. Ich hoffe sehr, dass das Kapitel euch nicht gelangweilt hat.

Vielen Dank dafür, dass überhaupt noch so viele Personen Interesse an dieser Geschichte haben. Es bedeutet mir wirklich viel.

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt