16 - Antipathie und Gewissensbisse

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"Scheiße, ab in den RTW", dringt Alex' Stimme in meinen Kopf. Leise, gedämpft, doch trotzdem klar genug, um die Worte zuzuordnen.
"Flo, wir brauchen dich. Kannst du?", ruft da auch schon Jacky, die kurz darauf mit der Trage ankommt.
Angesprochener wirft Papa einen fragenden Blick zu und verschwindet schnellen Schrittes zum RTW, nachdem Papa genickt hat. Er kommt mit uns allein klar, immerhin sind Anni und ich ja nicht verletzt. Obwohl... das sind wir. Nur nicht ersichtlich.
Ich schlucke die angestaute Angst herunter, doch sie kriecht mir direkt wieder den Hals hoch, kaum dass ich sie unten hatte. Wie eine lästige Fliege umschwirrt sie mich und möchte mich nicht mehr in Frieden lassen.
Papa organisiert noch eine Klinik für Simon, es läuft auf die Klinik am Südring hinaus, und übermittelt das Ergebnis den anderen.

"Für euch kommt noch ein RTW, mit dem ihr in eine Klinik gebracht werdet", erklärt Papa uns, krampfhaft darauf bemüht, meine Aufmerksamkeit von der Szenerie zu lenken, die hinter seinem Rücken den Lauf der Dinge nimmt.

Kleine Kieselsteine knirschen unter den Schuhsohlen, die sich der Bank nähern.
Ein junger Typ geht vor Anni in die Knie. "Alles gut mit dir?", fragt er einfühlsam und legt ihr seine Hände auf die Beine.
Für meinen Geschmack kommt Daniel ziemlich spät bei ihr an. Sein größtes Augenmerk lag zwar bis eben auf Simon, doch er hätte sich ruhig auch um seine Freundin sorgen können. Steht denn nicht eigentlich der Partner im Vordergrund?

Eine gewisse Antipathie Daniel gegenüber beschleicht mich, auch wenn ich ihn nicht mal kennengelernt habe.
Kann ich mir das jetzt überhaupt erlauben, ihn sofort in ein schlechtes Licht zu rücken? Vielleicht ist es nur dieser bittere Beigeschmack, den diese ganze Nacht mit sich bringt. Es versetzt mir einen ordentlichen Stich, dass ich nicht die erste Person war, die von Annis Freund erfahren hat. Vor einem Monat wäre sofort ein Anruf bei mir eingegangen. Sie hätte mir freudestrahlend davon berichtet, hätte darum gebettelt, dass ich zu ihr kommen soll, weil sie so glücklich überfordert sei. Wobei sie nicht hätte betteln müssen - ich wäre von allein aufgesprungen und losgegangen.
Mit wem wird sie es unter diesen Umständen sofort geteilt haben?
Anni musste tolle Neuigkeiten schon immer sofort mit anderen teilen. Und diese andere Person war bis vor kurzem ich.

Meine Gedanken überschlagen sich.
Auf der einen Seite möchte ich durch diesen einen Abend Daniel gegenüber nicht voreingenommen sein, doch mir springt gerade jedes noch so kleine negative Detail mitten in meine Wahrnehmung.
Da wäre unter anderem sein Blick, der nicht besorgt auf Anni ruht, sondern hektisch zu den Blaulichtern schielt, die Simons Aufenthaltsort markieren.

Papa starrt Daniel ebenfalls eine kurze Zeit an, ehe er sich mit fragendem Blick an mich wendet.
"Annis Freund, Daniel", bestätige ich seine unausgesprochene Frage.

"Franco?", beginnt Anni leise. Wobei ich mir in dieser Sache mittlerweile nicht mehr sicher bin, mein rechtes Ohr wird mir nun alles leise übermitteln.
Papa guckt sie aufmerksam an. Und auch Daniels Aufmerksamkeit fliegt vom RTW zu Anni.
Respekt.
"Kannst du meine Eltern informieren, damit sie in die Klinik kommen?"
Papa lächelt sie beruhigend an. "Wir warten auf euren RTW, dann melde ich euch an und informiere deine Eltern."

Mit der Wartezeit wächst auch mein schlechtes Gewissen.
Keiner weiß, dass ich gelogen habe. Womöglich würde sogar Toni nicht mehr an eine Lüge glauben, hätte er Anni hier gesehen.
Doch leider kann ich mich nicht selbst belügen.
Ich weiß, dass das hier ein reiner Zufall ist, der mir gute Karten zuspielt.
Ich weiß aber auch, dass mich mein schlechtes Gewissen quälen wird, bis ich diesen ganzen Abend vor Papa einräume.

Mit Papas Hand, die mir über das Bein streicht, rücken meine Gedanken für eine kurze Zeit in den Hintergrund.
"Ich rufe auch Phil und Paula an, damit sie bei dir sein können, okay?"
Ich schüttele schwach meinen Kopf, was mich kurz in den Schwindel zurückkehren lässt. "Lass sie ihren Abend genießen, bitte."
Skeptisch hebt er eine Augenbraue. In diesem Moment wird mir klar, dass es Papa gerade egal ist, ob ich das möchte. Er wird sie anrufen.
Seufzend nehme ich diese Erkenntnis hin. Ist ja nicht das erste Mal, dass ich jemandem die Freizeit nehme.

Die Sirene des RTWs wird gestartet, woraufhin der Motor aufheult und sich der Wagen geräuschvoll in Bewegung setzt.
"Das ist alles nur wegen mir passiert", murmele ich schuldbewusst.
"Ist es nicht. Er hätte das ja nicht tun müssen", erwidert Papa, doch ich sehe ihm an, dass er Simon dankbar ist. Er ist froh, dass nicht ich in diesem RTW liege.

Diese Gesamtsituation treibt mir letzten Endes Tränen in die Augen, als eine fremde RTW-Besatzung aufkreuzt.
Mich lässt alles unwohl fühlen. Die Lüge vor Papa, die er noch immer als richtig denkt. Simons Verletzung, deren Schweregrad ich nicht ansatzweise einschätzen kann, die jedoch auch auf mich zurückzuführen ist. Annis Anwesenheit, mit der ich so spontan nicht gerechnet habe. Die Gewissheit, dass ich erst jetzt von ihrem Freund erfahren habe.

All das lässt mich Papas Stimme nur am Rande mitbekommen.
"Knalltrauma. Bei ihr", Papa deutet neben mich, "Anni, das linke Ohr." Sein Finger wandert zu mir. "Bei Josefine das rechte Ohr. Ich übernehme das Informieren der Eltern."
Die beiden Sanitäter nicken.
Ich muss schlucken, suche den Blickkontakt mit Papa.
Natürlich bemerkt er meine momentan nicht ganz so rosige Gefühlslage direkt und geht erneut in die Hocke, die er für die Sanitäter aufgehoben hatte.
"Papa, ich...", beginne ich und muss unmittelbar feststellen, dass meine Stimme zittrig ist. Der Versuch, meine Tränen durch ein Schlucken zu ersticken, bleibt erfolglos. Papas Gesicht verschwimmt. "Ich hab dich angelogen", flüstere ich, während mir die ersten Tränen auf meine Jeans tropfen.
Warum muss mich auch jede Situation, die mich emotional überfordert, direkt zum Weinen bringen. Obwohl ich heute verhältnismäßig lange durchgehalten habe.
Er greift nach meinen Händen und drückt sie fest.
Einige Tränen fallen auf seine Hände, die ich gebannt anstarre.
"Wir reden nachher darüber, aber bitte mach dir darüber jetzt nicht solche Gedanken. Erst mal muss dir geholfen werden. Ich fahre mit dem NEF hinterher, wir sehen uns nochmal. Und falls dich das beruhigen sollte, kann ich dir sagen, dass auch ihr in unsere Klinik kommt."
Es beruhigt mich wirklich, jedoch ist das nur ein minimaler Funke aus dem gesamten Feuer, welches in mir herrscht und mich trotzdem frieren lässt.

Papa drückt mich kurz fest an sich, bevor er Anni und mich in den RTW begleitet.
Daniel ist wortlos bei den anderen zurückgeblieben. Ein fetter Strich unter Antipathie, er hätte immerhin auch mitfahren können.
Papa streicht mir zum Abschied über den Kopf und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.
"Lass dich von deinen Gedanken nicht auffressen", sagt er noch, ehe er den RTW verlässt.

Warum lüge ich ihn überhaupt an, wenn ich sowieso weiß, dass ich damit im Nachhinein nicht fertig werde?

Gebannt starre ich auf die Infusion. Tropfen für Tropfen läuft sie durch, bahnt sich einen Weg durch den langen, durchsichtigen Schlauch und verschwindet in meinem Körper.
"Arbeitest du gern an Silvester?", unterbreche ich die Stille, die bis eben noch angespannt im Schockraum hing. Wobei wohl wieder nur ich eine gewisse Spannung gefühlt habe, die durch Anni entstanden war. Auch wenn sie nur still auf der anderen Liege liegt.
Oli zuckt mit den Schultern, während er etwas an meiner Infusion ändert. "Es fordert einen auf andere Art und Weise, klar. Aber ich mags irgendwie. Obwohl es mir lieber wäre, keine bekannten Gesichter zu sehen." Er bedenkt mich mit einem kurzen Blick, dann geht er zu Anni rüber.
Ich hadere mit der nächsten Frage, springe dann jedoch über meinen Schatten und stelle sie, an keine bestimmte Person gerichtet, in den Raum. "Habt ihr Simon behandelt?"

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt