6 - (Un)nötige Gefühle

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Das Gelächter aus dem Wohnzimmer hört sich falsch an. Es hört sich an, als würde es gespielt sein. Es passt nicht zu dieser Ruhe in der Küche, die allein durch das brutzelnde Fett gestört wird. Und durch das rauschende Blut in meinen Ohren, welches mir schadenfroh entgegenbrüllt. Ich habe das doch irgendwie verdient.
Blut. Blut ist alles, worauf sich mein Bewusstsein konzentrieren kann. Das weiße Baguette, welches erst einen Tropfen Blut, dann zwei, dann drei in sich aufsaugt. Wie ein Schwamm empfängt das Brot mein Blut.
Ekel steigt in mir empor, kriecht langsam meinen Hals nach oben - und bringt den typischen Schmerz des Weinens mit sich. Nicht wegen des Schmerzes, im Gegenteil, ich spüre keinen Schmerz. Allein dieses Bild lässt mir das Blut in den Adern gefrieren, dieser Schrecken. Wobei - in meinen Fingern scheint das Blut alles andere als gefroren zu sein.
Zwei Finger. Drei? Meine Sicht verschwimmt durch die Tränenansammlung.

Gebannt starre ich auf das Desaster. Eine Träne tropft einsam aus meinem Augenwinkel und vermischt sich sofort freudig mit einem Tropfen Blut auf dem Schneidebrett.
Ein unkontrolliertes Zittern überkommt meine linke Hand, breitet sich von dort in meinem ganzen Körper aus.
Es war kein leichter Schnitt; die Tiefe habe ich ohne probleme gespürt.

"Hey, guck da nicht hin." Alex rüttelt an mir, doch ich kann meinen Blick nicht losreißen.
Jemand legt eine Kompresse über meine Finger und fixiert sie mit einem strammen Verband.
Keine Ahnung, woher das Verbandsmaterial kommt, ich habe nicht mitbekommen, dass das geholt wurde.
"Guck mich mal an, Fine. Hey", kommt Jackys Stimme langsam bei mir an, klingt jedoch so seltsam fremd.

Meine Reaktion bleibt aus. Ich sehe nur, dass der Verband jetzt schon rötlich schimmert.
Kurzerhand habe ich zwei Finger unter meinem Kinn.
Zischend gebe ich ihr zu verstehen, dass sie meinen Kopf nicht beliebig drehen kann, und drehe mich mit meinem gesamten Körper in ihre Richtung, bevor der Schmerz im Nacken wieder zugreift.
Jackys blaue Augen haben eine routinierte Ausstrahlung, die mich jedoch nicht wirklich von dem Gedanken ablenkt, dass ich mir gerade sehr tief in mindestens zwei Finger geschnitten habe. Ja, das Messer ging durch wie Butter - das gleiche Spiel wie beim Baguette. Nur leider wurde das Ziel verfehlt.

Jackys Lippen bewegen sich, scheinen etwas zu sagen, doch in meinen Ohren hört sich das an wie ein einziges Wirrwarr aus Buchstaben.
Vorwürfe brechen über mir zusammen, berieseln meine Gedanken. Jedoch rieseln sie nicht wie ein sanfter Regen, sondern stürmen auf mich wie Hagelkörner ein. Sie hinterlassen ein stechen im Magen, in meinem Herzen.

"... Klinik", schnappe ich da plötzlich von Jacky auf.
Klinik? Bitte?
Mein Herz setzt unbegeistert aus.
"Kipp uns jetzt nicht um", sagt Alex beinahe flehend. "Komm, ab ins Auto."
Der Boden scheint meine Füße magnetisch anzuziehen. Oder ich habe die Fähigkeit des Laufens soeben verloren.
Sachte packt jemand nach meinen Schultern und schiebt mich langsam aus der Küche, im Wohnzimmer vorbei an sämtlichen Gästen, deren besorgte Blicke scharf auf mich einzustechen scheinen, in den Flur. Alex guckt auffordernd zu meinen Schuhen, doch ich fühle mich wie gelähmt.

Ich weiß nicht, woher dieser Zustand rührt. Im Inneren geht ein einziger Sturm vor sich. Zum einen habe ich in den letzten Minuten Phils Geburtstag versaut - es reicht ja nicht, dass ich ihn bereits vergessen hatte. Zum anderen schwant mir, welche Prozedur ich in der Klinik über mich ergehen lassen darf und was diese wieder mit sich zieht.
Jede Bewegung, vermittelt mir mein Kopf, könnte diesen Sturm in Panik verwandeln und zum Ausbruch verleiten.
Also lieber wie erstarrt bleiben.

Seufzend macht sich Alex daran, mir meine Schuhe und Jacke anzuziehen. Ich fühle mich dämlich, aber die Angst vor der Panik ist zu groß.
Jacky hat bereits das Haus verlassen, als auch Alex mich nach draußen schiebt. Zu Papas Auto.
Alex parkt mich auf der Rückbank, schnallt mich an und schließt die Tür. Er geht.
Papa sitzt hinterm Steuer, neben mir sitzt Jacky, die ihren Blick schon konsequent auf mich gerichtet hat und nach meinem Handgelenk greift.
Ich habe nicht mitbekommen, dass Papa das mitbekommen hat.
Ich habe auch nicht mitbekommen, wie Alex die Schnitte begutachtet und entschieden haben muss, dass das ins Krankenhaus gehört.

"Das blutet ganz schön durch", meint Jacky leise zu Papa.
Vielleicht täusche ich mich nur, doch es fühlt sich an, als würde Papa die Geschwindigkeit etwas erhöhen.
Ich kann es nicht verhindern, dass mein Blick auf den Verband fällt. Auf den roten Verband.
Die angestauten Tränen brauchen Luft, ich kann sie nicht länger aufhalten.
Langsam lässt der erste Schock nach, womit auch der Schmerz kommt. Womit dieses ekelhafte Gefühl an meinen Fingern kommt.
Es ist tief.
Mein Zittern wird schlimmer.
"Josefine, ruhig bleiben", gibt Jacky ihr bestes. "Wir sind gleich da, dann wird das genäht und alles ist wieder gut."

"Und das an Phils Geburtstag." Seufzend lässt Charlotte meine Hand los.
Immer auf das Schlimmste.
Langsam wirkt die Betäubung in meiner Hand, doch davon werden nicht meine Schuldgefühle betäubt.
Es sind drei Finger, die genäht werden müssen. Unterhalb der Fingernägel einmal quer rüber.

Erschrocken guckt Charlotte zu mir hoch. "Spürst du was?"
Warme Tränen scheinen eine brennende Spur auf meinen Wangen zu hinterlassen.
Ich schüttele den Kopf. "Mach weiter", bringe ich mit bebender Stimme hervor.
Nicht mal ich habe eine richtige Ahnung, woher die ganzen Tränen kommen.
Aber dieses Wissen, ich habe nicht nur seinen Geburtstag vergessen, sondern nun auch noch versaut, ist elendig.

Jackys Hand hat meine unverletzte fest umschlossen, während Papas Hand beruhigend auf meinem Bein liegt.
Wenn sie jetzt auch noch meine Gefühle löschen könnten, wäre das ein vollbrachtes Wunder. Doch sie richten eigentlich nichts aus.

"Was ist los? Du hast es doch geschafft." Jacky guckt mich etwas besorgt an.
"Ich...", zitternd hole ich Luft, "habe einfach so ein schlechtes Gewissen", bringe ich leise hervor.
Ich spüre Papas Blick durch den Rückspiegel.
"Warum denn?", hakt Jacky weiter nach.
"Zuerst vergesse ich Phils Geburtstag, dann passiert mir mal wieder was und ich versaue ihn auch noch", rücke ich mit meinen Gefühlen raus.
"Och Süße, mach dir doch keine Vorwürfe. Unfälle passieren, und du weißt auch, dass Phil sich noch nie viel aus seinem Geburtstag gemacht hat", wirft Papa mit Blick auf die Straße ein.
Wirkung zeigen seine Worte leider kaum.

Phil drückt mich fest an sich. Sein leises Lachen fährt durch meinen ganzen Körper.
"Hör jetzt auf. Dir ist in letzter Zeit so viel passiert, ich nehme dir doch nicht übel, dass du nicht an meinen Geburtstag gedacht hast", sagt er leise und streicht mir über den Rücken. "Du vergießt nicht ernsthaft so viele Tränen, weil du ein schlechtes Gewissen hast."
"Doch", brumme ich gegen seine Brust. Sein Shirt hat meine Tränen schon lange aufgesaugt.
Er klopft mir auf den Rücken, ehe er mich von sich wegdrückt, um mich belustigt zu mustern. "Hör auf, hier so ein Trübsal zu blasen."
Mein Blick fixiert seinen, analysiert sein ganzes Gesicht, doch er meint das wirklich ernst. Phil ist mir in keinster Weise böse. Er ist nicht verletzt.
"Aber ich hab dich wirklich lieb", versichere ich ihm. Nicht zum ersten Mal in den letzten zehn Minuten.
"Zum fünfzehnten Mal, ich habe dich auch lieb", erwidert er lachend.

Phil hat es geschafft, mein schlechtes Gewissen in eine minimale Prise zu verwandeln. Schlaflos bin ich dennoch.
Ich denke an die letzte Nacht. Papa konnte nicht schlafen und hat sich ein Glas Wasser genommen. Vielleicht bringt es ja was, sich nochmal kurz zu bewegen.

Schon auf der Treppe merke ich, dass ich nicht die einzige wache Person in diesem Haus bin.
"Ich freue mich so sehr, das kannst du dir nicht vorstellen", höre ich Phil in einem sanften Ton sagen, den ich noch nie von ihm gehört habe. "Das ist das schönste Geschenk."
"Und wie ich mir das vorstellen kann. Ich habe ja auch was davon und bin nicht weniger glücklich", erwidert Paula in einer mindestens genauso beflügelten Stimme.
Verwirrt bleibe ich auf der letzten Stufe stehen. Eigentlich will ich nicht lauschen, aber...
"Wissen es die anderen schon?", möchte Phil leicht lachend wissen.
Paula lacht ebenfalls auf. "Nee, denen habe ich das tatsächlich noch nicht gesagt, oh Wunder."
Das Glas Wasser ist in Vergessenheit geraten.
Mir bleibt nur noch ein einziger Gedanke.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt