61 - Immer wieder für eine Überraschung gut

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"Fine", Tonis Hände greifen nach meinen Armen, "Luft wäre schön."
Nur schwerfällig kann ich den Druck verringern, denke jedoch nicht daran, ihn loszulassen. Auch wenn es mit einem Gips an einem Arm umständlicher ist. Zu lange habe ich gedacht, ihn nie wieder sehen zu können.
Es fühlt sich so unwirklich an, ihn an mir zu spüren. Toni zu umarmen. Ihn vor mir zu haben. Einer der normalsten Dinge der Welt wird gerade zu einem kleinen Wunder, was das alles seine gerechte Traurigkeit verleiht.
"Ich dachte, du würdest nie wieder nach Hause kommen", schluchze ich gegen seinen Oberkörper. Eigentlich ist es ein Wunder, dass Toni so in die Höhe geschossen ist. Papa ist nicht der größte Mann und auch meine Größe bricht unter ihm ab. Doch Toni ist so groß geworden, das ist unglaublich.
"Hier bin ich. Live und in Farbe", quetscht er heraus und nimmt meine Arme erneut in seine Hände, nachdem ich keine Anstalten gemacht habe. Im Gegenteil - unbewusst habe ich wieder fester zugedrückt. "Bei aller Liebe - ich habe dich schrecklich vermisst, mein kleiner Giftzwerg - aber ich bin völlig platt. Ich würde mich gern hinlegen." Mit seiner wohl letzten Kraft schafft er es gegen großen Widerstand, meine Arme von seinem Körper zu lösen.

Ich gucke ihn an. Durch meine Tränen ist sein Gesicht verschwommen, doch ich sauge trotzdem jedes kleinste Detail auf. Auch er guckt mich genau an.
Zitternd hole ich Luft, habe keine Ahnung, welche Antwort mich auf meine folgende Frage erwarten würde. "Wo warst du?"
Ich blinzle meine Tränen so gut es geht weg, um seine Gesichtszüge genauestens beobachten zu können.
Augenblicklich versteift er sich. Und seine Miene sagt mir rein gar nichts.
Auch wenn das meine momentane Freude über sein Auftauchen nicht dämpfen kann, tut sich ein gewaltiges Fragezeichen in meinem Kopf auf. Es breitet sich aus wie ein Parasit und hat in wenigen Sekunden meinen ganzen Körper befallen.

Regungslos gucke ich dabei zu, wie Toni auch von Phil und Paula fest umarmt wird.
Regungslos guck ich dabei zu, wie Toni die Treppe nach oben geht.
Regungslos gucke ich dabei zu, wie er aus meinem Blickfeld verschwindet - ohne den kleinsten Ansatz einer Antwort.
Und ich bin auch noch regungslos, während Papa mich umarmt und mich schließlich zur Couch führt.
Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Noch nie in meinem Leben war ich mit meinen Gefühlen so überfordert.

Gedankenverloren starre ich auf meinen linken Arm. Langsam, als wäre er aus feinem und hauchdünnem Glas, bewege ich ihn. Es fühlt sich komisch an, ungewohnt. So frei und doch so eingeschränkt.
"Geht's?" Tabea guckt mich aufmerksam an.
Ich zucke. Meine Gedanken waren gerade überall, nur nicht in diesem Behandlungsraum. "Denke schon", murmle ich, ehe ich wieder abschweife.
Mich quält ein mulmiges Gefühl. Die Stimmung ist seit Tonis Auftauchen anders. Er schweigt wie ein Grab. Als hätte jemand seinen Mund versiegelt. Nur selten spricht er, und wenn er es tut, dann nur die nötigsten Verständigungen.

Papa hat seine Arme vor der Brust verschränkt und lehnt an der Wand.
Langsam und behutsam bewegt Tabea meinen Arm.
"Wenn etwas sein sollte, wisst ihr ja, was ihr machen müsst", wendet sie sich kurz darauf an Papa. "Aber es sieht alles gut aus. Auch die Bilder sind unauffällig. Sport solltest du trotzdem noch nicht machen."
Nickend rutsche ich von der Liege und stelle mich direkt neben Papa.
Tabea lächelt mich an. "Dann wünsche ich dir übermorgen einen schönen ersten Schultag. Lang ist's her."
Mit Mühe verkneife ich mir ein gespieltes Würgen. "Schule. Diese Vorfreude ist nicht zu bändigen."
Lachend hält Tabea uns die Tür auf und ich betrete schon beinahe fluchtartig den Gang. "Du stehst die Schule schon durch, daran glaub ich ganz fest. Außerdem hast du noch heute und den ganzen Tag morgen zu Hause, an dem du dich mental auf Schule vorbereiten kannst."

Meine mentale Vorbereitung ist nicht mal wirklich in Gang gekommen, da finde ich mich im Foyer der Schule wieder.
Diese ganzen Schüler, diese ganzen Stimmen, diese ganzen Hintergrundgeräusche. Sie machen mich wahnsinnig. Zu lange hatte ich meine Ruhe, um jetzt damit umgehen zu können.
"Hey", Anni gibt mir einen Stoß in die Seite, "komm, wir müssen eins nach oben."
Ich nicke nur und folge ihr. Mein Rucksack fühlt sich ungewohnt schwer auf meinen Schultern an und scheint die gesamte Last nur noch zu verschlimmern. Ich frage mich bei jeder weiteren Stufe, die ich dem Klassenraum näher komme, nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen, wie ich dem Unterricht folgen soll, wenn in mir ein einziger Tiger wütet und nicht zu beruhigen ist. Mein Gehirn wurde schon lange erbarmungslos von ihm zerfleischt - zumindest nach meinem Gefühl. Berichtige, nach meinen Gefühlen. Ich habe vergessen, wie es sich anfühlt, von nur einem Gefühl durchflutet zu werden. Mir ergießen sich etliche Gefühle Sekunde für Sekunde in Eimern über meinen gesamten Körper. Angenehm definiere ich definitiv anders.

"Weiß denn jemand, wie man hier das x auf die andere Seite bekommt?" Abwartend guckt Frau Gerlach durch die Klasse und bleibt schließlich bei mir hängen. Ihr Blick fließt in eine Aufforderung.
Langsam schüttle ich den Kopf, weiß nicht mal, was ihre Frage war.
"Na schön", seufzend wendet sie der Klasse den Rücken zu, "dann schreiben wir das mal auf."
Ich schiele zu Anni. "Kann ich ein Blatt? Hab meinen Block vergessen", flüstere ich, obwohl ich am liebsten gar nicht erst mitschreiben würde.
"Du hast heute alles vergessen", bemerkt sie mit Blick auf den Kugelschreiber, der vor mir liegt. Womöglich ist dieser eigentlich ihrer, nur habe ich heute auch meine Federtasche vergessen. Na schön - ich habe sie nicht gefunden.
Ich setze den Stift in der rechten oberen Ecke an, ohne zu wissen, was ich überhaupt schreiben muss. "Der wievielte ist heute?"
Anni antwortet geduldig, wenn auch etwas verwundert. Vielleicht ist sonst immer sie diejenige, die nach dem Datum fragt. Ich habe immer eine Antwort darauf, nur heute habe ich keinerlei Plan. "Der dreißigste März."
So spät schon?

Kreis für Kreis erscheint auf meinem Blatt vor mir. Die Matheformeln sind schnell umzingelt, die Kreise werden dichter.
"Möchtest du nichts essen?"
Ich muss mich kurz schütteln und gucke zu Anni hoch, die neben mir in ein Brot beißt.
"Nö", antworte ich knapp und konzentriere mich schnell wieder auf das Gespräch zwischen Mimi und Alina, die vor uns sitzen. Den letzten Block muss ich auch noch aushalten - wenn diese blöde Pause endlich mal vorbei wäre.
"Und übrigens", Mimi wird leiser, "ich habe jetzt einen Freund."
Hab ich so viel verpasst? Ich meine, sie hatte doch die ganze Zeit einen, oder?
Die typische Antwort eines Mädchens folgt von Alina: "Hast du ein Bild von ihm?"
Neugierig hebe auch ich meinen Kopf, bleibe jedoch unauffällig. Also hoffe ich zumindest.

Und tatsächlich kann ich einen Blick auf Mimis Handy erhaschen. Hätte ich jetzt Annis Frage bejaht und wirklich etwas gegessen, würde ich mich wohl auf direktem Weg verschlucken.
Anni tut das jedenfalls und fängt im nächsten Moment an, heftig zu husten. Ich wusste nicht, dass sie sich ebenfalls auf das Gespräch konzentriert hat.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt