23 - Fliegen will gelernt sein

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Für den Bruchteil einer Sekunde hat jemand das Licht wieder ausgeknipst. Doch als der schwarze Rahmen immer dünner wird und schließlich gänzlich verschwindet, scheint das Licht praktisch auf mich einzustechen. So hell habe ich das noch nie wahrgenommen. Hat jemand die Glühbirnen gewechselt?

Ein gleißender Schmerz schießt durch meine rechte Schulter, fließt von dort in den gesamten Arm, frisst sich in den Brustkorb und verläuft in meinen Beinen.
Jedes Pochen meines Herzens spüre ich im gesamten Körper, es ist so schnell, dass ich gar nicht zählen könnte. Es ist, als bringe mein Herz meinen Körper zum Beben.

Doch so schnell all diese Schmerzen gekommen sind, sind sie wieder weg. Wie verpufft. Nur mein Herz möchte sich nicht beruhigen, legt eher noch einen Zahn zu.
Langsam bewege ich meine Beine. Meine Arme. Links funktioniert problemlos, rechts nur unter Schmerzen, die mich zischen lassen.
"Ach du Scheiße", flüstert jemand neben mir.
Ich drehe zaghaft meinen Kopf, kann jedoch beruhigt feststellen, dass dieser problemlos zu bewegen ist. Mein Bruder guckt mich mit großen Augen an. Anscheinend überfordert mit seinem Dasein. Am liebsten, so sieht das hier aus, würde er wohl auf der Stelle unsichtbar werden, damit nicht er derjenige ist, der nun handeln muss. Dabei besteht gar kein Handlungsbedarf.

Bevor ich mein Vorhaben jedoch in die Tat umsetzen kann, stürzt Papa auf den Flur.
"Was war hier so laut?" Seine Augen sind zusammengekniffen. Anscheinend hat er schon geschlafen und fühlt sich vom Licht geblendet.
Mein Oberkörper fährt langsam hoch, darauf bedacht, meinen rechten Arm in einer schonenden Haltung zu lassen.
Alex stolpert auf den Flur, gefolgt von Phils auffliegender Zimmertür. Auch er steht nun wie ein aus dem Schlaf gerissener Hamster neben den anderen drei Männern. Völlig verpeilt und verpennt. Nur Toni ist blass und starrt mich aus aufgerissenen Augen an.
"Ich war das jedenfalls nicht", gebe ich von mir. Meine Stimme ist von einem feinen Zittern unterstrichen. Ich könnte schwören, dass mein rasendes Herz dafür verantwortlich ist, welches noch immer keine Ziellinie vor Augen hat.
"F-Fine ist...", beginnt Toni beinahe atemlos. "Die Treppe. Also weggeknickt und dann..." Er bricht ab, kann seinen starrenden Blick nicht von mir wenden.
Langsam haben mich auch die drei verschlafenen Augenpaare ausmachen können. Nur in der Schnelligkeit eines schon längst überholten Betriebssystems begreifen sie, was hier gerade vor sich ging.

Papa, der nun allmählich rafft, was hier gerade passiert ist, schnappt nach Luft. "Nicht bewegen!", kommt es aufgebracht von ihm.
Also dafür ist es schon zu spät, schätze ich.
Es würde gerade wohl sogar eine Schildkröte schnellere Reaktionen haben.
"Es ist wirklich alles gut. Ich bin nur irgendwie ein bisschen auf meine Schulter und sonst..." Ich stütze mich mit der linken Hand am Boden ab, um auf meine Beine zu kommen. Eigentlich wollte ich meinen Satz noch beenden. Und sonst nichts. Das 'nichts' fließt ohne zu überlegen in ein undefinierbares Geräusch, bevor ich mit stechendem Fußgelenk zur Seite kippe. Mein Herz wollte sich einfach nicht beruhigen.

"Da sind wir ja wieder." Phil hängt über mir. Seine Augen spiegeln leichte Überforderung wider, während er mit zwei Fingern an meinem Handgelenk klebt. "Und der Puls scheint sich auch langsam wieder zu beruhigen. Wurde ja auch Zeit."
"Bisschen viel für deinen Körper, was?" Jetzt erscheint auch Papas Gesicht über mir.
Ich blinzele mit der schwachen Hoffnung, diese Bewegungen über mir stoppen zu können.
"Leute, haltet doch mal still. Das ist ja nicht zum Aushalten", beschwere ich mich dann doch, nachdem meine Gedanken ungelesen blieben.
"Bewegen? Wir halten still. Bist du auf deinen Kopf gefallen?" Papa möchte schon alarmiert an diesen greifen, doch ich haue mit einer nicht gerade koordinierten Armbewegung seine Hand weg. Und das bringt mich leider zum Keuchen. Ich darf meinen rechten Arm nicht vor deren Augen bewegen. Solange sie mich wie nicht ganz so unauffällige Privatdetektive beobachten, muss ich die unauffällige Rolle einnehmen.
"Ich habe keine Beschwerden", kommt es mir in der nächsten Sekunde mit viel zu viel Euphorie über die Lippen. So viel zum Thema unauffällig.
Phil zieht eine Augenbraue hoch. "Zeig mal deinen Arm her."
Er möchte nach meiner Strickjacke greifen, doch ich weiche auf dem Boden liegend zur Seite. "Ehrlich, mir geht es gut", wiederhole ich und probiere, mich ein zweites Mal aufzurichten.
Es dreht sich alles etwas, schwankt wie auf einem Schiff über Wellen, doch mit ein bisschen Beherrschung schaffe ich das schon wieder ins Bett.
Papa dreht sich zu Toni. "Wie ist sie gefallen? Von welcher Stufe?"
Er hebt überfordert seine Schultern. "Von der dritten? Oder vierten? Sie ist mit dem rechten Fuß weggeknickt und dann ganz blöd mit der Schulter aufgekommen", erklärt er für meine Verhältnisse viel zu schnell, bevor er eine Pause einlegt. "Aber ob ihr Kopf jetzt irgendwie in Mitleidenschaft gezogen wurde, kann ich nicht sagen. Das ging alles so schnell."
"Wurde er nicht", wende ich sofort ab und stehe nun richtig auf. Ein schwarzer Schleier überrascht mich, doch ich kann mein Gleichgewicht halten. Es ist nur nicht ganz so von Vorteil, den gleichen Fehler wie vorhin zu begehen. Als ich meinen rechten Fuß belaste, falle ich zur Seite.

Anders als erwartet, falle ich der nächstbesten Person direkt in die Arme. Voll gegen Alex, der sich jedoch keinen Zentimeter zu rühren scheint. Ich war für ihn wohl eher wie eine Fliege, die gegen ihn geflogen ist, auch wenn sich der Aufprall für mich gerade ganz anders angefühlt hat.
"Fliegen will gelernt sein, mh?", grinst er und lässt mich dann wieder auf den Boden sinken. Diesmal setzt er sich jedoch zu mir und hält mich fest, immer schön darauf bedacht, meinen rechten Arm nicht zu berühren.
"Du lässt Phil jetzt mal nach deiner Schulter gucken. Und danach gucken wir nach deinem Fuß", bestimmt er mit strengerem Unterton, doch seine Stimme klingt trotzdem sanft.
Mir entweicht ein Seufzen. "Wenn ihr dann zufrieden seid. Aber da ist nichts", brumme ich und gucke zu Papa, der gerade wieder dabei ist, meinen Puls zu fühlen.
Nun regt sich auch Toni mal von Ort und Stelle. "Was wolltest du denn da oben? Um diese Uhrzeit?"
Gekonnt weiche ich seinem fragenden Blick aus und reagiere nicht.
"Das würde ich auch gern wissen", entgegnet Papa und schaut mich an. Ja, das müsste doch gerade er wissen.
"Was möchtest du um diese Uhrzeit hier?", stelle ich dafür eine Gegenfrage an Toni.
"Stopp, Fine, weiche unserer Frage nicht aus." Papas Blick brennt allmählich auf mir. Er weiß doch genau, was ich wollte. Und er weiß auch genauso gut, was ich nicht gefunden habe. Nicht finden konnte. Weil er sich darum gekümmert hat, es verschwinden zu lassen.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt