75 - Der Haken

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 Meine Bemühungen, mich leise vom Stuhl zu erheben, enden in einem lauten Knarren, welches ich heute schon von meinem vorübergehenden Bett gehört habe. Ein Wunder, dass der bis eben unter meinem Gewicht nicht zusammengebrochen ist.
„Wo gehst du hin?" Anni guckt mich verwirrt an.
Mit dem Wissen, dass ich volle Aufmerksamkeit von allen Seiten habe, fällt mir nichts Besseres ein als die simpelste Antwort: „Ich muss mal kurz."

Es ist schon fragwürdig, weshalb Alex nicht da saß, wo er sich vor fünf Minuten hingesetzt hatte. Noch mehr Fragen wirft jedoch der Fakt bei mir auf, dass ich von seinem Verschwinden nichts mitbekommen habe. Allein die Lautstärke der Stühle wäre für keinen unbemerkt geblieben.
Nur eine Lösung fällt mir dafür auf Anhieb ein: er hat nie gesessen.

Beinahe kommt mir dieser Lösungsansatz viel zu banal vor. Doch man klammert sich bekanntlich an jede Möglichkeit, die einem in den Sinn kommt.

Ich kann nicht wirklich beschreiben, was mich überhaupt dazu verleitet, so viel darüber nachzudenken.
Zugleich liegt die Antwort auf der Hand. Meine neugewonnenen Erkenntnisse des gestrigen Abends wiegen wohl doch mehr, als ich mir gestern ausmalen konnte.
Wie sagt man so schön? Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht - selbst wenn er dann die Wahrheit spricht.
Mit einem kurzen Schmunzeln muss ich feststellen, dass man mir inzwischen auch kein Wort mehr abkaufen dürfte, wenn man nach dem Sprichwort gehen würde.

Vielleicht hat er auch einfach nur etwas vergessen. Aber was wäre so wichtig, dass er dafür diesen Einstieg sausen lässt?

Wenn es ihm nicht gut geht? Oder wenn ihm etwas passiert ist?

Mit jedem Schritt kommt es mir sinnvoller vor, nach ihm zu gucken. Oder überhaupt erst mal nach ihm zu suchen, denn gesehen habe ich ihn noch nicht. Und wissen, wo er sich aufhält, tue ich auch nicht.

Immerhin ist die Frage, weshalb ich das Bedürfnis verspüre, dieser Sache auf den Grund zu gehen, für einen kurzen Moment verpufft.

„Alex?" Abrupt bleibe ich stehen, als ich ihn neben seiner Zimmertür stehen sehe.
Sein Kopf schnellt nach oben. Gleichzeitig nimmt er sein Handy vom Ohr und dreht es geschickt zur Seite, sodass ich den Bildschirm nicht sehen kann.
„Was hast du gesagt?", fragt er wie aus der Pistole geschossen und hebt seine Augenbrauen.

Mit kleinen Schritten gehe ich weiter auf ihn zu, als könne er jeden Moment mit einem Hechtsprung auf mich zukommen.
Auch wenn mir kein plausibler Grund einfallen möchte, weshalb er dies tun sollte, habe ich das Gefühl, dass ich mich gerade auf ganz dünnem Eis bewege.

Die Klassenfahrt beginnt super, schätze ich.

„Ist alles okay mit dir? Warum bist du nicht bei der Vorstellung der anderen dabei?"
Seine Augen weichen meinem Blick aus. „Ich musste..." Er beißt sich auf die Unterlippe, ehe er kurz mit seinem Handy wackelt. Dann scheint ihm etwas einzufallen. „Mir ist eingefallen, dass ich noch ganz kurz etwas Wichtiges mit Phil besprechen musste. Wegen der Arbeit, du weißt schon."
„Nein, ich weiß nicht", entgegne ich misstrauisch. Dass er mir die Lüge auf einem Silbertablett serviert und sich nicht mal die Mühe macht, dieses wenigstens mit einem Tuch zu verdecken, scheint ihm nicht einzuleuchten.
„Warte kurz", wimmelt er mich ab und dreht sich von mir weg. „Phil, ich muss aufhören... Ja, das war Fine... Das weiß ich doch nicht... Sagst du ihm das bitte?... Hör mir bloß auf... Ja, danke... Mhm... Tschüss." Für meinen Geschmack dreht sich Alex nach dem Auflegen etwas zu schnell um. Genauso schnell kommt auch sein weiterer Versuch, aus dieser Situation zu entfliehen. Ihm ist es sichtlich unangenehm.

„Los, wir müssen zurück. Sonst wird deine Lehrerin noch ungemütlich."
Alex legt mir eine Hand auf den Rücken, mit der er mich vorantreiben will, jedoch merkt er erst nach meinem Einschreiten, dass er mich in die falsche Richtung drückt. Abgesehen davon, dass sich die ungewöhnliche Kälte seiner Hand nicht ganz so angenehm durch mein Shirt frisst.
Und in mir bleibt die Frage zurück, ob er weiß, wie schlecht er mich angelogen hat.

Mein Blick ist starr gegen die Decke gerichtet.
Es hat gedauert, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, doch jetzt kann ich sogar die umrandeten Flecken erahnen, die einen ehemaligen Wasserschaden auffliegen lassen.

„Du steigerst dich da rein", sagt Anni. Und das nicht zum ersten Mal. „Ich habe das Gefühl, dass du so sehr an deinem momentanen Leben zweifelst, dass du nach einem Haken suchst, der nach deiner Meinung existieren muss. Du kennst es nicht mehr, ein Leben ohne Beschwerden zu führen." Sie hält kurz inne. „Das mit deiner Mutter ist wirklich hart. Aber es ändert im Prinzip nichts an deinem Leben", ergänzt sie deutlich leiser.

Und wie es etwas ändert. Vertrauen ist das Stichwort.

Auch sie konnte nicht wirklich glauben, was sie gehört hat. Gerechnet hätte sie damit nie. Wer rechnet auch schon damit, von seiner Familie so an der Nase herumgeführt zu werden.

Diesmal erkenne ich nicht an einer raschelnden Bettdecke, dass Anni sich dreht, sondern am viel zu lauten Knarren ihres Bettes. „Auch du kannst ein zufriedenes und glückliches Leben ohne Haken führen. Suche nicht nach der Nadel im Heuhaufen, wo keine sein kann, mh?"
„Vielleicht hast du recht", gebe ich nur ungern zu. „Ich glaube, ich habe Alex vorhin zu Unrecht irgendetwas angehext."
Auch wenn ich es nicht sehen kann, kann ich mir denken, wie Anni grinst.
„Ich habe eben immer recht", säuselt sie. „Gute Nacht. Und bitte zerbrich dir nicht den Kopf über Dinge, die nicht existieren."

Mit einem nur bedingt besseren Gefühl drehe ich mich so vorsichtig wie möglich auf die Seite.
Froh darüber, dass keiner die Tränen sehen kann, die langsam auf mein Kopfkissen tropfen.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt