"War eine harte Nacht, was?" Alex grinst Toni an und schiebt ihm eine Schmerztablette zu.
Murrend greift er nach dieser. "Und wie hart", bestätigt er mit kratziger Stimme.
"Sei froh, dass Papa nicht da ist. Ob der so stolz auf seinen Sohn wäre?"
Toni zieht eine Grimasse und dreht sich zu mir. Beinahe fällt er dabei vom Küchenstuhl, doch Alex kann ihn im richtigen Moment noch halten. "Zum Glück", beginnt Toni ganz im Ton des älteren Bruders, "hat Papa so eine vorbildliche kleine Tochter, die die Finger vom Alkohol lässt."
Alex hindert mich daran, etwas zu erwidern, und legt auch mir eine Tablette vor die Nase. "Sonst eskaliert das hier gleich wieder und es gibt Verletzte. Einfach nehmen und ignorieren", besänftigt Alex mich und schiebt mir auch ein Glas Wasser zu. "Ist das denn schon besser geworden?"
Ich bejahe Alex' Frage. Antibiotika bewirken einfach Wunder. Auch wenn ich jetzt erst die dritte Tablette schlucke, sind die Entzündungen schon spürbar zurückgegangen.
"Tja, und bei dir kann das ja jetzt noch ein bisschen dauern, mein Freund." Alex wuschelt Toni durch die Haare, als wäre er noch ein kleines Kind.
"Lass das", brummt er und probiert vergeblich, seine Haare zu richten. Ich verkneife mir den Kommentar, dass seine Frisur schon vor Alex' Attacke aussah wie ein Vogelnest. Meine Haare müssen immerhin auch so aussehen, als hätte ich in eine Steckdose gefasst. Zu meiner Verteidigung bin ich aber noch krank.Summend sitze ich vor der Terrassentür und starre in den Garten. Ein Vogel hüpft auf der Wiese und sucht anscheinend nach Essen. Könnte der mich verstehen, würde ich ihm sagen, dass er das am nächsten Baum bei uns im Garten findet.
Ein Seufzer entweicht mir. Wollte Papa nicht schon längst zu Hause sein?
"Papa weiß nichts von meinem äußerst harten Ausrutscher. Und ich würde dich bitten, das auch für dich zu behalten."
Ich zucke vor Schreck zusammen. Kann Toni sich nicht irgendwie mal ankündigen?
Ich hadere mit einer Antwort. Wohl zu lange, denn bevor ich etwas sagen kann, kommt mir Paula zuvor. Warte - Paula? Und sie kommt jetzt genau woher? "Mach das bitte. Ich habe keine Lust, dass daraus ein Streit entflammt."
Genervt verdrehe ich meine Augen, wogegen meine Stirn noch etwas protestiert. Aber das ist kein Vergleich zu den Vortagen. "Du bist doch eh volljährig. Als würde Papa das großartig jucken."
"Was juckt mich großartig?", mischt sich plötzlich ein anderer mit ein. Papa.
Erschrocken beiße ich mir auf die Lippe. Er sollte jeden Moment kommen. Und da ist er. "Dass ich jetzt auf den Dachboden möchte", sage ich schnell und stehe auf.
Ungläubig guckt mich Papa an, lässt das jedoch so stehen. "Lass mich bitte kurz ankommen, die Schicht war hart. Zehn Minuten, okay?"
Mir bleibt ja nichts anderes übrig, als das mit einem Nicken so hinzunehmen.Die Treppe zum Dachboden knarrt, als ich sie betrete. Papa ist dicht hinter mir.
"Ich könnte auch die anderen Treppen des Hauses runterfallen", erinnere ich ihn beiläufig.
"Möglich. Aber ich weiß deinen Kreislauf noch nicht einzuschätzen", erwidert er mit höchster Überzeugung. Oh ja, weil ich meinen Kreislauf nicht allein einschätzen kann.
Oben angekommen, puste ich mir erst mal eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus meinem Zopf gelöst hat. Das war dann irgendwie doch etwas viel Bewegung im Vergleich zu den letzten Tagen.
"So, dann wollen wir uns mal ins Chaos stürzen. Ich suche Phils Schachtel, du suchst die Kiste mit den Barbies. Und falls dir eine blaue Box in die Hand fallen sollte und dort Briefe drinnen sind, sag mir Bescheid." Papa guckt leicht überfordert auf die Unordung, die sich zu unseren Füßen ausbreitet. Unser Dachboden war noch nie strukturiert eingerichtet. Fällt irgendetwas an, was wir nicht mehr im Alltag brauchen, landet es auf einem der Haufen hier oben. Das Problem ist nur, dass die Haufen langsam ineinander zu verschmelzen scheinen.Bevor ich mich überwinden kann, irgendwo anzufangen - na schön, vielleicht habe ich einfach keine Ahnung, wo ich anfangen soll - brennt mir noch eine Frage auf der Seele. "Was für eine Box mit Briefen?"
Papa macht eine wegwischende Handbewegung. "Irgendein Zeugs aus Phils Jugend, das er Paula mal zeigen will."
Na dann.
Eher widerwillig mache ich mich auch daran, nach der Kiste zu suchen. Wobei ich das ja wollte. Aber beim Anblick des Dachbodens kann einem schon die Lust vergehen.Papa und ich unterhalten uns gerade über seine Schicht, als mir wenig später tatsächlich eine kleine blaue Kiste in die Hände kommt.
Neugierig mache ich den Deckel ab und bereite mich schon mal darauf vor, Papa triumphierend mitteilen zu können, dass ich Phils Box gefunden habe.
Doch mit dem Blick in die Schachtel schlucke ich die Worte wieder runter. Ich habe eine Kiste voller Bilder gefunden.
Gleich auf dem ersten Bild grinsen mir drei Leute entgegen. Der Anschein einer perfekten Familie.
Vorsichtig nehme ich das Bild heraus, als könnte es jeden Moment zerfallen, auch wenn es noch nicht allzu alt ist.
Beim genaueren Hinsehen erkenne ich noch eine vierte Person. Papa hat ein kleines Kind auf dem Arm, das ich auf höchstens ein Jahr schätze. Es kann sich da nur um mich handeln.
Vor ihm steht ein kleiner Junge, der Papas Hand hält. Seine Mütze sitzt ihm schief auf dem Kopf, doch sein Grinsen ist nicht zu übersehen. Und rechts neben Papa ist eine Frau. Um genauer zu sein Oma. Ihr Sommerkleid weht im Wind, der immer am Meer herrscht, und sie sieht noch frischer aus, als sie es jetzt noch tut.
Stolz lächelt Papa seine beiden Kinder an, Oma lächelt ihren Sohn an.
Aus dem Meer im Hintergrund schließe ich, dass das Bild in Italien aufgenommen wurde.
Mir wird warm ums Herz. Diesem einen Bild kann man die ganze Liebe ablesen, die Papa für Toni und mich empfindet.
Leider wird dieses schöne Gefühl schnell verdrängt. Mich beschleicht eine bedrückende Stimmung. Hat vielleicht meine Mutter dieses Bild aufgenommen?
Ich weiß nicht, wann sie uns verlassen hat. Papa wollte nie darüber reden, bis ich es irgendwann schließlich aufgegeben hatte und es kaum noch ein Thema war.
Aber Papa und Toni wirken so glücklich, als wäre dort alles noch in Ordnung gewesen."Fine?" Im Augenwinkel sehe ich Papas Beine neben mir. Und im nächsten Moment verschwindet die Box von meinen Beinen. "Das war nicht die, die wir gesucht haben", sagt er knapp und verschließt sie wieder, ehe er sie einfach in die Ecke packt, aus der er gekommen ist.
Ich gucke zu ihm hoch. Das Bild wirkt verzerrt - sein Gesicht wirkt verzerrt. Er geht mit einer fahrigen Bewegung durch seine Haare und holt tief Luft. "Ich hab die Barbies und Phils Schachtel gefunden. Wir können wieder gehen." Papa streckt mir seine Hand entgegen, um mich hochzuziehen, doch ich muss kurz auf diese starren. Sie zittert leicht. Das tut sie nie.
"Ist alles okay mit dir?", hinterfrage ich skeptisch, ergreife dann aber seine Hilfe.
Er nickt schnell. Ein wenig zu schnell. "Klar, was soll sein?"
Meine Schultern zucken, denn ich habe keine Ahnung, was sein sollte. Ich weiß nur, dass das keine Reaktion aus dem Nirgendwo war. Irgendetwas ist in dieser Box, das ich nicht finden soll.Unruhig wälze ich mich in meinem Bett. Leider verursacht nicht mehr meine Erkältung diese Unruhe. Sondern die Fragen, die sich seit der Sache auf dem Dachboden in meinem Kopf anhäufen und mich nicht mehr in Ruhe lassen.
Sie sind wie Sekundenkleber. Einmal in Berührung damit gekommen, lösen sie sich nicht mehr so schnell auf.
Das Interesse, die ganze Geschichte meiner Mutter zu erfahren, flammt in mir auf. Seit Jahren hatte ich dieses Bedürfnis nicht mehr so stark verspürt, doch irgendetwas sagt mir, dass ich in dieser Box voller Fotos auch Fotos meiner Mutter finden kann.
Wenigstens wissen, wie sie aussieht. Das möchte ich. Denn nicht mal ein Foto habe ich jemals von ihr gesehen.Mitten in der Nacht stehe ich auf und kämpfe mit meinem Kreislauf, der nicht ganz so erfreut über die Bewegung ist. Wann in die Box gucken, wenn nicht jetzt? Wenn ich das leise anstelle, kann nichts passieren und es wird nie jemand erfahren.
Das kann nicht sein. Ich stelle die Taschenlampe meines Handys eine Stufe heller und gucke noch genauer. Sie ist nicht mehr da. Die Box ist weg. Papa muss sie vorhin hier weggenommen haben. Fassungslos starre ich auf die Stelle, an der sie heute Nachmittag noch lag, als Papa und ich wieder nach unten gegangen sind.
Anscheinend ist Papa das so wichtig, dass ich nichts von meiner Mutter sehe, wenn er schon damit rechnet, dass ich nochmal gucken gehen könnte.
Schon eine Spur enttäuscht betrete ich die Treppe erneut, um nach unten zu gehen.
Völlig darauf fokussiert, kein Knarren auszulösen, erschrecke ich mich umso doller, als dies passiert. Und als mit dem Geräusch auch noch das Licht angestellt wird, setzt mein Herz kurz aus.
Der nächste Schritt geht ins Leere.----------------
Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)
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7 Jahre Pech (Asds) |2/2|
Fanfiction|2/2| ~Der zweite Teil von '7 Jahre Pech'. Um die Zusammenhänge verstehen zu können, ist es notwendig, den ersten Teil gelesen zu haben.~ Josefine hat das erste Jahr Pech nach ihrem Spiegelunglück überstanden - wenn auch ziemlich chaotisch. Doch m...