48 - Grollendes Gewitter

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Seine Augen weichen mir aus.
"Ich muss mal wieder", bringt er beinahe zähneknirschend hervor, steht auf und läuft so schnell, als wäre er auf der Flucht.
"Dir auch noch einen schönen Tag. Bis morgen", murmle ich, während ich ihm verwirrt hinterherschaue.

"Das lief wohl nicht ganz nach deinen Vorstellungen, oder?"
Mein Blick zuckt zur Seite. Ein Mädchen in meinem Alter hat sich mit einem Rollstuhl an meine Bank gestellt und guckt mich aus mitleidigen Augen an. "Er ist irgendwie immer ziemlich... mies drauf, wenn du mich fragst."
Ich hebe meine Augenbrauen. "Mh?" Überrumpelt von dieser Situation kann ich ihren Worten irgendwie keinen Sinn schenken.
"Ach so, ich bin Mareike. Sorry, dass ich dich hier gerade so überfallen habe", sagt sie schnell und streicht sich nun doch etwas zurückhaltender eine blonde Strähne aus dem Gesicht. "Eigentlich ist das gar nicht meine Art, fremde Menschen einfach so anzusprechen, aber ein langer Krankenhausaufenthalt kann viel aus einem machen", erklärt sie und lächelt mich an. Ihre braunen Augen strahlen komischerweise Fröhlichkeit aus. In ihnen ist kein Anflug von mieser Stimmung, die man im Krankenhaus oft grundlegend bei Patienten sieht.

Sie hat mir soeben die Sprache verschlagen. "Äh..." Kurz kneife ich meine Augen zusammen und schüttle meinen Kopf, in vager Hoffnung, meine Gedanken wieder an ihre richtigen Stellen zu bekommen. "Ich bin Josefine", stelle ich mich dann anständig vor. Ich beneide Menschen, die neuen Menschen gegenüber einfach so offen sein können. Dafür bin ich viel zu introvertiert.
"Liegst du auch auf der Kinderstation?", will sie wissen.
Nur nickend kann ich das bestätigen. Schon wieder merke ich, wie mir jedes Wort geklaut wird.

Mühsam rückt sie ihren Rollstuhl zurecht. "Tausend Kreuze mache ich, wenn ich diese blöden Gipse los bin." Schnaubend deutet sie auf ihre Beine, die weiß eingepackt sind. So wie mein linker Arm.
"Seit wann bist du denn hier? Ich habe dich noch nie gesehen. Und glaub mir - ich kenne mittlerweile fast jeden von der Kinderstation", plappert sie munter drauf los, was mich nun doch etwas lockerer macht.
"Ende Februar hatte ich einen Turnunfall, lag eine knappe Woche im künstlichen Koma, war noch ein paar Tage auf der Intensivstation..." Leise zähle ich im Kopf die Tage und Wochen. "Drei Wochen bin ich jetzt hier? In einer Woche werde ich entlassen", komme ich zu einem Entschluss und hoffe, dass ich damit richtig liege.
"Ich werde auch in einer Woche entlassen. Liege aber schon seit mindestens sechs Wochen hier. Eine gaaaanz lange Geschichte." Sie zwinkert mir zu und ich bin erneut einfach nur baff, wie locker sie damit umgeht. "Jedenfalls habe ich heute ein neues Zimmer bekommen. Ich hoffe inständig, dass meine Bettnachbarin nett ist. Sie war vor ein paar Minuten nicht da, als ich eingezogen bin. Liegst du allein?"
"Ich liege allein", bestätige ich, "und bin auch froh drüber, wenn ich ehrlich bin. Ich hab schon genug Trubel bei mir."

Mareike legt ihren Kopf schief. "Klingt interessant."
Als ich gerade etwas erwidern will, kommt mir mein Handy zuvor. Verwundert gucke ich auf Paulas Namen.
"Sorry, da muss ich ran", entschuldige ich mich, ehe ich abnehme. "Paula?"
"Meine Güte", stößt sie völlig außer sich aus. "Alles okay mit dir?"
"Was soll denn sein? Ich bin draußen."
"Draußen?", höre ich Phil erschrocken sagen. Im Hintergrund. Was macht er denn da? "Allein?"
"Ja, allein." Ich verdrehe meine Augen. "Mit Tabeas Erlaubnis, stellt euch vor. Habt ihr sie nicht gesehen?"
Paula schluckt. "Nein, wir..."
Ich habe praktisch vor Augen, wie sie hilfesuchend zu Phil guckt, der ihr bedeutet, nichts weiter zu sagen.
Ich schüttle meinen Kopf über diesen Gedanken und bringe das Gespräch lieber voran. "Nein, ihr...?"
"Wir haben keinen gesehen", beeilt sie sich zu sagen, "Kommst du bitte zum Zimmer?"
"Klar", versichere ich etwas unsicher und lege auf. Übers Telefon wäre ja alles geklärt.

Warum werde ich heute von jedem wie aus dem Nichts überrumpelt? Erst Adrian, der wie aus Spaß an der Freude außerhalb seines Dienstes hier auf einer Bank sitzt und nach einem falschen Wort einfach abhaut; Mareike, die mich einfach anquatscht und so tut, als würden wir uns schon lange kennen, und jetzt auch noch Paula und Phil, die alles andere als entspannt waren.
Was ist heute nur wieder los?
"Alles okay?", rüttelt Mareike mich aus meinen Gedanken.
Ich schlucke. "Da bin ich mir irgendwie nicht mal wirklich sicher", gebe ich zu und stehe langsam auf. "War echt angenehm, dich kennenzulernen. Ich muss ins Zimmer."
Euphorisch hebt sie ihre Schultern. "Wird für mich auch langsam mal Zeit", legt sie fest, woraufhin wir den Weg zur Klinik einschlagen.

Unser Weg soll sich jedoch gar nicht mehr trennen. Erst direkt vor der Tür merke ich, dass ich wohl ihre neue Genossin bin.
Von ihr bekomme ich ein Grinsen. "Was ein Zufall. Freut mich aber."
Eine Erwiderung meinerseits bleibt aus. Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich davon halten soll, wenn ich ehrlich bin.
Mich packt eher die schlechte Laune. Aus Angst, mir nun etwas von Phil und Paula anhören zu dürfen, da ich allein draußen war. Dabei hatte ich Tabeas Segen, was wollen sie mehr?

Beide sehen ziemlich blass aus, als mich ihre Blicke treffen.
"So große Sorgen hättet ihr euch um mich auch nicht machen müssen", bemerke ich leicht lachend. Phil liefert sich bald noch ein Battle mit seinem Kittel, wenn er keine Farbe ins Gesicht bekommt.
Beide Münder klappen auf, doch dann weicht deren Aufmerksamkeit von mir ab und richtet sich auf Mareike, die sich mühsam hinter mir ins Zimmer schiebt.
Überrascht guckt sie zu Phil hoch. "Herr Funke, was machen Sie denn hier?"
Obwohl ich irritiert bin, dass sie ihn anscheinend kennt, würde ich auch lieber wissen, was er hier macht.
Paula tut es mir gleich, was der ratlose Gesichtsausdruck angeht.
"Mich interessiert gerade zwar blendend, weshalb sie dich kennt, aber noch lieber würde ich wissen, was du hier machst. Ich frage mich das nämlich auch. Und zwar noch mehr", mische ich mich ein. Oder komme Phil zuvor, wie man das nehmen mag.
"Ich habe Mareike vor ziemlich langer Zeit hier eingeliefert. Ich kann mich an den Einsatz jetzt noch viel zu genau erinnern. Ich musste durchgängig an dich denken", erzählt Phil mit gequältem Gesicht.
"Hier sitze ich. Und mir geht es gut, dank Ihrer Hilfe", springt Mareike ein und möchte Phils Gedanken damit wohl wegwischen.
Leider zieht das bei Phil gerade nicht richtig. Und das zeigt mir, dass hier deutlich etwas dahinterstecken muss. Hinter seinem Auftritt.
Hinter Paulas verzerrter Miene.
Hinter meinem schon wieder rasenden Herzen. Vielleicht kann ich wenigstens einmal von einem schlechten Gefühl getäuscht werden. Einmal in meinem Leben. Bitte.

"Bitte macht mir nicht schon wieder Angst. Paula, wolltest du nicht erst in einer halben Stunde kommen?" Nervös trete ich von einem Fuß auf den anderen, entscheide mich dann aber doch für das Bett.
Mareike hat sich bereits ohne Hilfe in ihr Bett gehievt und guckt scheinbar interessiert auf ihr Handy. Es bestehen bei mir keine Zweifel, dass sie mit mindestens einem Ohr bei uns ist.
"Hatte halt doch jetzt schon gepasst", startete Paula den kläglichen Versuch, sich aus dieser Sache zu reden. Würde ich jetzt nicht wissen, dass sie eh die ganze Zeit zu Hause sitzt, könnte ich das glatt abkaufen.

Und dann geht ihr Blick tatsächlich hilfesuchend zu Phil, der mich jedoch auch nicht wirklich viel beruhigender anguckt. Genau diese Situation habe ich mir gerade am Handy noch ausgemalt, jetzt sehe ich sie live vor meinen Augen.
Ich drücke mir eher unbewusst meine Fingernägel in die Handflächen.
Mir ist nicht nach dem, was sie mir nun eröffnen wollen. So gar nicht. Kein kleinster Funke schreit nach diesen Neuigkeiten.
Das Gewitter über mir grollt heftig.
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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt