85 - Bröckelnde Lüge

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„Ich glaube, mir wird das hier gerade zu viel", sage ich wahrheitsgemäß und ergänze somit meine Antwort. Ich merke, wie mein Kreislauf langsam aus dem Ruder gerät. Mein Herz schlägt immer schneller, mein Kopf dreht immer kleinere Kreise.
Doch keiner in diesem Zimmer reagiert. Sie starren sich alle nur stumm an und scheinen wie vom Blitz getroffen.
Was. Ist. Hier. Los? Ich ahne, dass es keine Kleinigkeit ist, dennoch kann ich mir mit keiner Faser meines Körpers erdenken, in welche Richtung das hier laufen soll. Laufen wird.

Phil. Er braucht Mühe, seine Atmung wieder in den Griff zu bekommen. Er scheint eine beachtliche Geschwindigkeit gehabt zu haben, mit der er in mein Zimmer gerannt kam. Als hätte er mit aller Macht versucht, etwas zu unterbinden. Vielleicht Astrids Besuch? Aber warum sollte er das mit einer solchen Dringlichkeit verhindern wollen?

Alex. Er hat inzwischen seinen Kopf in den Nacken gelegt, seine Augen sind geschlossen. Mit den langsamen und tiefen Atemzügen wirkt er so, als würde er sich einreden können, dass alles nur ein Traum ist, wenn er seine Augen wieder öffnet. Doch sein tiefes Durchatmen bringt nichts, denn nachdem er einen erneuten Blick auf Papa wirft, durchflutet Angst seinen ganzen Körper. Das kann sogar ich erkennen.

Und dann sind da noch Papa und Astrid. Sie starren sich an - und wirken ungläubig. Astrids Mund klappt auf, doch keine Worte verlassen ihren Mund. Und Papa? Er ist zu einer Salzsäule erstarrt. Außer seine Hand, die plötzlich sehr viel stärker nach meiner greift, als hätte er Angst, dass mich jeden Moment jemand aus diesem Bett hier ziehen und verschleppen könnte.

Die erste Regung nach gefühlten Minuten kommt von mir. Mit all meiner Kraft versuche ich, Papas Griff zu lockern, der langsam zu Schmerzen führt. Meine Kraft ist jedoch alles andere als ausgeprägt, doch er versteht und lässt von meiner Hand ab.

Die zweite Regung kommt von Astrid. Ihre Stimme klingt überaus laut und ihre Tonlage hat etwas Unangenehmes an sich, als sie ihre Worte findet. Doch diese gelten nicht mir. „In welcher Verbindung stehst du zu ihr?"

Leider kommt die dritte Regung in dieser Kette nicht von Papa. Zaghafte Schritte enden hinter Phil. Frau Gerlach hat nun auch noch mein Zimmer betreten. Sie scheint nicht annähernd zu ahnen, dass das der falsche Zeitpunkt ist. „Ich wollte mich nur versichern, dass hier kein Notfall ist. Herr Funke, Sie sind plötzlich so gerannt. Da habe ich mir Sorgen gemacht."
Phil reagiert nicht auf Frau Gerlach, doch aus mir platzt es heraus. „Stopp!" Verzweifelt kneife ich meine Augen zusammen, doch die Situation hat sich kein bisschen verändert, als ich sie wieder öffne. „Bitte, ich kann das gerade nicht. Mir wird das alles wirklich zu viel. Ich kann nichts mehr dem anderen zuordnen", sage ich mit einer dünnen Stimme, die verrät, dass ich kurz vor einem Zusammenbruch stehe. Es sind zu viele Eindrücke, zu viele unverständliche Eindrücke, die mein absolut geschwächter Körper nicht ansatzweise verarbeiten und einordnen kann.

Meine Lehrerin zeigt großes Verständnis und verlässt ohne Umschweife das Zimmer. Und die anderen?
Sie bleiben unschlüssig an Ort und Stelle.

„Das ist mein Vater", antworte ich schließlich ungeduldig auf Astrids Frage, die Nervosität steigt in mir stetig an, „aber ich weiß nicht, was daran jetzt so wichtig ist. Zumal das offensichtlich sein muss. Bitte, können einfach alle diesen Raum verlassen?"
Meine Worte erzielen augenscheinlich keine Wirkung und prallen an ihnen ab. Ich bin mir nicht sicher, ob mir überhaupt jemand aufmerksam zugehört hat.
„Dein.... Vater?" Mir wurde doch zugehört. Astrid dreht sich zu mir. Ihr Blick löst ein Unbehagen in mir aus, als sie mein Gesicht damit nicht mehr loszulassen scheint. „Josefine", flüstert sie und schluckt.
Jetzt regt sich auch Papa von allein. Er steht auf und hat dabei so einen Schwung, dass der Stuhl zu kippen droht. So wie die ganze Situation in diesem Krankenzimmer. „Nimm ihren Namen nie wieder in den Mund", sagt er leise. Bedrohlich leise. Sein Kiefer ist angespannt, während sich langsam seine Adern an den Schläfen abzeichnen. Und ich verstehe von Sekunde zu Sekunde weniger.
„Ich glaub es nicht." In Astrid kommt Bewegung rein, indem sie ihre Hand vor den Mund schlägt.
„Und ich kann auch nicht glauben, dass du noch existierst", erwidert Papa mit bebender Stimme. Er klingt so abfällig, wie ich ihn noch nie gehört habe.
„Papa?" Meine Augen suchen ängstlich einen Blickkontakt zu ihm, doch er hat nur Augen für Astrid. „Papa, du machst mir Angst. Ihr macht mir alle Angst. Ich verstehe das hier nicht." Von Wort zu Wort zittert meine Stimme mehr, während sich die ersten Tränen ihren Weg bahnen. „Bitte geht", schluchze ich schließlich und drücke mir meine Handballen gegen meine geschlossenen Augen. „Alle."

Meine Worte werden erhört. Ich fühle mich nicht wohl. Weder mit allen hier drinnen, noch mit dem Gedanken, allein zu sein. Doch ich bin maßlos überfordert und brauche Ruhe. Die Narkose hinterlässt noch immer ihre Spuren und ich kann nicht mehr einordnen, ob ich mir gewisse Dinge nur einbilde oder ob sie wirklich existieren.

Ich verlasse mich auf die Geräusche, die mich glauben lassen, dass einer nach dem anderen das Zimmer verlässt.
Erst, als die Tür mit einem leisen Klacken geschlossen wird, nehme ich meine Hände wieder runter. Das Bild vor meinen Augen ist verschwommen, dennoch nehme ich direkt Phil wahr, der sich auf den Stuhl setzt, auf dem zuvor Papa saß.
„Ich hoffe, es ist okay, wenn ich bleibe", möchte Phil sich versichern.
Ich nicke. „Das habe ich insgeheim gehofft", gebe ich leise zu und atme danach tief durch.
Phil lächelt zaghaft. „Und das habe ich mir wiederum gedacht."
Dankbar greife ich nach seiner Hand, die er mir hinhält. „Schlaf ein bisschen. Ich weiß, dass die Situation sehr überfordernd auf dich gewirkt hat, immerhin hast du gerade erst eine Vollnarkose hinter dir und alle Menschen um dich herum führen sich für dein Empfinden grundlos auf." Er drückt sanft meine Hand. „Danach sind wir dir wohl oder übel eine Erklärung schuldig."
„Eine gewaltige", entgegne ich, ohne einen blassen Schimmer zu haben, was noch auf mich zukommen wird.

Ich kann nur vermuten, dass es die Schmerzen sind, die mich aufwecken. Das Zimmer liegt in völliger Dunkelheit und ich kann allein durch die Hand, die meine berührt, erahnen, dass sich jemand im Zimmer befindet. Vorsichtig bewege ich mich etwas zur Seite, in der Hoffnung, herauszufinden, wer neben meinem Bett sitzt.
Erst, als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkenne ich schemenhaft, dass es Papa ist. Zusammengesunken sitzt er da und macht selbst den Anschein, als würde er schlafen.
Ich wäge ab, ob ich Papa wecken soll, weil ich solche Schmerzen habe, oder ob ich sie doch noch bis zum Morgen aushalten kann.
Eine unbedachte Bewegung, mit der ich mich richtig zudecken wollte, nimmt mir die Entscheidung jedoch ab. Ich kann mir ein Zischen nicht verkneifen, von dem Papa direkt aufschreckt.
„Hast du Schmerzen?" Binnen Sekunden findet er den Lichtschalter und gibt mir das Gefühl, durch das neue grelle Licht zu erblinden.
„Vor allem habe ich Fragen", wende ich mit noch immer zusammengekniffenen Augen ein. Mir wurde es nicht vergönnt, das Ereignis vom Tag hier in diesem Zimmer einfach zu verdrängen. Es hat mich direkt wieder im Griff, sobald ich wach bin. „Aber ja, leider auch schreckliche Schmerzen", gestehe ich mir Sekunden später selber ein, in denen Papa mich nur verzweifelt gemustert hat.
„Ich hole Hilfe."

Eine Erklärung soll ich jedoch noch nicht bekommen, denn die Medikamente schießen mich weiterhin ab.

Der Morgen ist schneller gekommen, als mir lieb ist. Innerlich sehne ich mich noch nach Schlaf, mein Kopf möchte aber Antworten. Und somit gucke ich abwartend zwischen Papa, Phil und Alex hin und her. Nachdem Papa die ganze Nacht über bei mir war, sind Phil und Alex pünktlich zum Frühstück mit Kaffee aufgekreuzt. Sie drängen Papa mit Blicken dazu, mir endlich die Wahrheit zu sagen, das sehe ich deutlich, doch er sitzt nur da und starrt seinen inzwischen fast leeren Becher an.
Sekunden verstreichen, Minuten vergehen, keiner spricht.
Bis Phil sich räuspert. „Franco, sie hat es mehr als verdient. Mach es kurz und schmerzlos, wie ein Pflaster abziehen." Darüber, ob Phils Vergleich mit dem Pflaster angebracht war, lässt sich streiten. Aber das ist nun mal Phil - er probiert immer, jede noch so angespannte Situation für mich etwas lockerer zu gestalten.
„Schmerzlos wird das alles ganz und gar nicht", widerspricht Alex Phil. „Aber ja, sinngemäß hast du ja recht", räumt er nach einem bösen Blick von ihm schnell ein.

Als wieder eine Minute vergangen ist und ich schon damit rechne, nie eine Antwort zu bekommen, holt Papa tief Luft. „Ich kann es wohl nicht länger leugnen." Endlich hebt er seinen Kopf und guckt mir direkt in die Augen - in meine Seele. In ihnen liegt so viel Schmerz, wie ich es nie für möglich gehalten hätte, denn er ist sonst so ein positiv gestimmter und lebensfroher Mensch, der sich eher selten aus der Bahn bringen lässt. Außer es geht um Toni oder mich, dann ist es nicht ganz so schwer.
Papa schluckt. Er bricht den Blickkontakt ab, bevor er mir einen Satz an den Kopf haut, der mich alles andere hinterfragen lässt.
„Fine, Astrid ist deine Mutter."

Mir bleibt die Luft weg.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt