76 - Vom Urlaubsflirt zur Familientragödie

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 „Geht es dir gut?" Besorgt liegt Alex' Stirn in Falten.
„Oh Gott." Mein Herz macht einen Salto. „Du kannst mich doch nicht so erschrecken", brumme ich, während ich meinen Arm aus seiner Hand befreie. Dabei fällt mir fast mein Teller aus der Hand, auf dem in diesem Moment eigentlich mein Frühstück landen sollte – wäre Alex mir nicht mit seiner super spontanen ‚Ein Schrecken am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen'-Aktion in die Quere gekommen.
Um meine Sorgen zu vertreiben, müsste er mir momentan wohl einen Herzinfarkt bescheren. So leicht ist das bei mir nämlich nicht, ein normaler Schrecken reicht da schon lange nicht mehr aus.

„Tut mir leid." Er gibt mir den Teller zurück, den er heldenhaft aufgefangen hat. „Aber du siehst ziemlich besorgniserregend aus."
„Sagst du", erwidere ich schon fast auflachend.
Seine Augen sind mit dunklen Schatten unterlegt. Es wirkt, als würden sie ihm jeden Moment zufallen.
Bevor einer von uns erneut zu Wort kommt – das wäre wohl wieder ich gewesen – kommt uns jemand zuvor.
„Entschuldigt, darf ich kurz durch?"
Alex zuckt unter ihrer Stimme zusammen, macht aber direkt Platz.
„Danke." Astrid lächelt uns kurz zu und widmet sich dann der großen Belagauswahl des Buffets.

„Ich will mal nicht so sein und deine Frage beantworten", nehme ich den Faden unbeirrt wieder auf. Mein Magen macht sich schon mit einem lauten Knurren bemerkbar, ewig will ich hier nicht mehr an Ort und Stelle schmoren. „Mir geht es gut, danke der Nachfrage. Und Ihnen, verehrter Herr?"
Erwartungsvoll sehe ich zu Alex hoch, doch er macht nicht mal den Anschein danach, dass er mir überhaupt zugehört hat.
Seine Augen gucken an mir vorbei.
Und als ich mich umdrehe, sehe ich auch, wer in diesem Moment wichtiger als meine Antwort ist.
Das Vorhaben, Alex' vergangenes Verhalten zu vergessen und als nicht komisch abzustempeln, zerplatzt wie ein Luftballon, der zu viel Luft bekommen hat. Es war zu viel Hoffnung von mir und schmerzt im Nachhinein.
Alex schluckt und schüttelt fast unmerklich seinen Kopf. „Mir ging es eigentlich nie besser", sagt er dann eher weniger glaubwürdig.

„Immer schön die Nase in die Sonne halten, das bringt Vitamin C." Anni grinst, schließt die Augen und dreht ihren Kopf Richtung Sonne.
„Vitamin D", berichtige ich sie schmunzelnd.
„Klugscheißer."
Seufzend tue ich es Anni gleich und drehe mich zur Sonne, kann es mir aber nicht verkneifen, mit einem Auge gegen die Sonne anzublinzeln und Alex zu mustern. Er steht neben Frau Gerlach und tippt auf seinem Handy herum.

Ich würde sein Auftreten als nervös bezeichnen. Inzwischen bin ich mir jedoch nicht mehr sicher, ob ich wenigstens meinem eigenen Eindruck noch Glauben schenken kann.
Anni hatte schon irgendwo recht mit dem, was sie gestern gesagt hat.
Ich interpretiere zu viel in Dinge, in denen es zu wenige Anhaltspunkte gibt.
Meine Deutschlehrerin wäre sicher stolz auf mich.

„Einmal bitte eure Aufmerksamkeit!"
Wieder zuckt Alex unter ihrer Stimme zusammen, doch auch Anni zuckt und dreht sich schwungvoll von der Sonne weg, als Astrid dabei in die Hände klatscht.
Ihre Bitte kam unerwartet, da erschreckt sich auch mal ein Alex.
Randnotiz an mich selber: kein Platz für Interpretationen.

Astrids Strahlen konkurriert mit dem Sonnenlicht. Es ist bewundernswert, wie positiv sie schon allein von außen wirkt.
„Heute werden wir diesen Weg nehmen." Sie zeigt rechts von sich auf einen Weg, der ziemlich steinig aussieht, jedoch von wunderschönen Grünflächen begrenzt ist. „Zu Beginn nehmen wir den leichten. Im Laufe der Woche werden wir uns steigern." Sie zwinkert in Alex' und Frau Gerlachs Richtung.
Alex' Reaktion? Sein Fuß zeichnet nervös Kreise auf den sandigen Boden.

„Irgendetwas ist mit ihm."
Anni schaut mich an. „Einbildung ist auch eine Bildung", sagt sie trocken und wendet ihren Blick wieder nach rechts.
„Das ist mein vollster Ernst, Anni. Hast du mal sein Verhalten beobachtet?" Geladen kicke ich einen Stein nach vorn.
Sie dreht sich kurz um, hebt dann aber ihre Schultern. „Er unterhält sich ganz normal mit Frau Gerlach. Nicht ungewöhnlich, absolut nicht auffällig."
„Mhm. Jetzt vielleicht", murmele ich, wieder einen Stein nach vorne kickend. Erneut geladen, und das wohl etwas zu stark.
Der Stein trifft die Person vor mir. Und Astrid bemerkt es.
„Warst du das gerade?" Sie lächelt mich freundlich an und steckt ihr Handy beiläufig in ihre Hosentasche.
„Sorry", entschuldige ich mich knapp.
Sie zuckt mit ihren Schultern und verlangsamt ihre Schritte, bis sie auf Annis und meiner Höhe ist.
„Mir hilft die Natur immer sehr, wenn mich etwas beschäftigt." Sie atmet tief ein. „Irgendwie kann ich hier einfach immer gut nachdenken und habe meine Ruhe vor Personen, die mir trotz aller Liebe manchmal echt den letzten Nerv rauben."

Meine Stirn legt sich in Falten. Eigentlich dürfte ich über Astrids offene Art nicht überrascht sein, strahlt sie doch schon ganz viel Offenheit aus. Trotz dessen fühle ich mich gerade ein bisschen überfallen.
„Was auch immer es ist", in ihrer Stimme schwingt so viel Zuversicht mit, wie ich es schon lange nicht mehr gehört habe, „es wird besser."
Mein Mund klappt auf, obwohl ich nicht weiß, was ich darauf erwidern soll.
„Meine Rede", erwidert Anni und grinst Astrid an.
Ich rolle mit den Augen, kann jedoch nicht verhindern, dass sich meine Mundwinkel zu einem Lächeln verziehen.
„Geht doch", stellt Astrid gut gelaunt fest. „Da oben machen wir gleich mal eine Pause." Sie deutet auf mehrere Sitzgelegenheiten, auf die wir geradewegs zusteuern.

„Kennen Sie eigentlich so etwas wie schlechte Laune?" Kaum habe ich diese Frage ausgesprochen, beiße ich mir auf die Zunge. Eigentlich wollte ich mir diese Frage verkneifen, doch auch nach dem kleinen Snack auf der Bank lag sie mir noch immer auf der Zunge.
Übel scheint sie mir diese Frage nicht zu nehmen. „Bitte duze mich", antwortet sie mit einem leichten Lachen. „Aber ja, ich kenne auch schlechte Laune. Wenn sich zum Beispiel meine beiden kleinen Söhne bekriegen, sinkt meine Laune oft. Auch Kleinigkeiten zwischen meinem Mann und mir können mich manchmal ziemlich reizen." Sie macht eine kurze Pause und schließt mit lautem Klacken ihre Brotbüchse. „Aber ich denke mir dann immer, dass das Leben viel zu kurz ist, um es mit unnötigen Launen und Zankereien zu verschwenden. Wenn ich wirklich kurz davor bin, richtig abzurutschen, gehe ich einfach raus und beruhige mich. Kaum betrete ich das Haus danach, ist die Welt wieder ein ganzes Stück besser."

Während sich ihre Worte in mir absetzen, trifft mein Blick Alex'. Und er sieht alles andere als glücklich aus.

„Du hast zu viel Langeweile, kann das sein?" Anni zerknüllt mit einem Kopfschütteln den Zettel, den ich ihr vor wenigen Minuten in die Hand gedrückt habe, und wirft mir den Papierball an den Kopf.
Entgeistert gucke ich sie an. „Das ist alles? Ich habe Hilfe von meiner besten Freundin erwartet."
„Hilfe", äfft sie mich nach, atmet tief durch und schließt ihre Augen. „Astrid ist zu alt für Alex. Sie werden nichts miteinander gehabt haben. Wie auch, sie wohnt in Bayern, er in Köln. Auch keinen Urlaubsflirt. Und allein wegen der Wohnsituation fällt auch weg, dass sie mal eine schwierige Patientin von ihm war. Und nein, auch deine Urlaubs-Idee fällt weg. Er wird auch nicht ihr Cousin sein, das wüsstest du, womit deine Familientragödie auch im Sande verläuft. Des Weiteren gehe ich nicht davon aus, dass sie mal befreundet waren und in einem Streit auseinandergegangen sind. Du hast eine viel zu große Fantasie."
Mein Versuch, das zerknüllte Blatt mit all den möglichen Erklärungen für Alex' merkwürdiges Verhalten in den Papierkorb zu werfen, scheitert mit der Tür, an der es abprallt und vor ihr liegenbleibt.
„Ich hätte mit mehr Hilfe und Verständnis von dir gerechnet. Aber vielleicht hast du recht und ich bilde mir wirklich alles nur ein, weil ich nicht glauben kann, dass mal alles okay ist."
„Tut mir leid, aber meine Versuche, dir deine Hirngespinste auszutreiben, gehen die ganze Zeit wohl nach hinten los", erwidert Anni ziemlich gereizt.

Das hat gesessen.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt