24 - Nächtliche Beschäftigung

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Ich schlucke die minimale Wut, die sich auf Papa anbahnt, schwerfällig runter. Sie sitzt mir wie ein Kloß im Hals. Habe ich kein Recht, etwas über sie zu erfahren?
Klar, es war jahrelang kein Thema bei uns. Aber warum? Weil keiner darüber geredet hat. Weil jedes Gespräch abgeblockt wurde. Weil Papa immer alles mit einem Schulterzucken und 'Ich weiß nicht, nicht so wichtig' abgetan hat.
Irgendwann schwindet das Interesse, wenn man immer wieder gegen eine Wand spricht, immer wieder abgelenkt wird. Aber wenn es plötzlich so präsent und nah wie noch nie scheint, hätte man gern Antworten auf einen völlig eingestaubten Haufen voller Fragen. Sie mögen eingestaubt sein, doch jeder weiß, wie schnell Staub verschwinden kann. Es reicht ein Pusten, um alles wieder an die Oberfläche zu bringen.

"Pass doch auf", fauche ich Phil an, der gerade an meiner Schulter getastet hat.
Sein Blick wirkt leicht erschrocken, und das wundert mich auch nicht wirklich.
"Sorry", schiebe ich schnell hinterher. Er kann nichts dafür, er hat mit dieser Sache im Grunde nichts zu tun. Außerdem dürfte er nicht mal wissen, woher die Spannung von mir rührt.
Phils Augen sagen mir, dass er mir das nicht übel nimmt. "Schon gut. Aber das muss wohl oder übel geröntgt werden."
Ich nehme es so hin. Eine andere Wahl habe ich eh nicht. Und außerdem schnürt mir Papas Blick allmählich den Hals zu. Eigentlich möchte ich keinen Stress, keine Auseinandersetzungen, keine Diskussionen. Aber lässt er mir etwas anderes übrig?

Alex drückt mir leicht in meine linke Schulter. "Phil tastet jetzt noch kurz deinen Fuß ab, okay?"
Ich nicke und hole tief Luft, um mich zu beherrschen. Alex und Phil können nichts dafür. Ich darf meine Wut nicht an ihnen auslassen.
"Luft holen nicht vergessen", flüstert Alex mir ins Ohr. "Warum weinst du?"
Zitternd stoße ich die angesammelte Luft aus, während Alex mir schon die ersten Tränen aus dem Gesicht gewischt hat, als meine Reaktionen ausblieben.
"Alles gut", sage ich so glaubwürdig wie ein vierjähriges Kind, welches mit verschmiertem Gesicht und grinsend leugnen will, die Schokolade gegessen zu haben.
Die Frage, warum ich denn oben gewesen wäre, bleibt nun auch aus. Zu Papas Glück, denn gerade traue ich mir zu, meine Wut nach draußen zu lassen. Vorteilhaft wäre das nun wohl nicht.

Die Lichter der Laternen rauschen an uns vorbei. Mein Handy schleudert mir eine leuchtende Zwei entgegen, als ich auf den Knopf drücke.
Ein Auto zischt an uns vorbei, sonst ist es still, bis Papas Räuspern das Auto füllt. Automatisch greifen Phils Hände fester um das Lenkrad, sein Blick fällt durch den Rückspiegel auf mich.
Ich kann seinem Blick nur kurz standhalten, auch wenn er mir sagen sollte, dass ich ruhig bleiben soll. Mir fehlt die Sicherheit. Kann ich wirklich ruhig bleiben?
"Wie geht es dir?", fragt Papa schließlich und guckt mich von der Seite an.
Etwas irritiert drehe ich meinen Kopf zu ihm. Eigentlich hätte ich jetzt wieder mit der Frage gerechnet, was ich da oben gemacht habe. Andererseits... er weiß es schon. Und er wird das Thema sicherlich nicht von allein provozieren.
Ich deute ein Nicken an. "Passt."
"Klingt nicht gerade überzeugt", erwidert er skeptisch.
Wieder ein angedeutetes Nicken. "Passt wirklich."
Seufzend gibt er es auf, und ich wende mich wieder der vorbeiziehenden Straße zu. Das hat er sich allein eingebrockt.

"Frederik, ich warne dich. Lass das." Ich beobachte jede noch so kleine Bewegung, die seine Hände machen. "Ich schreie gleich", drohe ich, habe schon den kommenden Schmerz im Gefühl. Doch es kommt nichts. Frederik lässt von meinem Fuß ab und begutachtet meine Schulter.
"Auch hier warne ich dich", zische ich mit verzogenem Gesicht und zucke im nächsten Moment. "Frederik, ich..."
"Ruhig, geht schon wieder, oder?", besänftigt er mich und nimmt seine Hände von meinem Körper.
Tatsächlich ist der Schmerz, der durch seinen Druck ausgelöst wurde, wieder abgeklungen.
"Röntgen?", fragt Phil von Arzt zu Arzt.
Frederik nickt das ab. "Röntgen."
Papa legt mir eine Hand auf die Schulter. "Ich begleite dich."
Der folgende Gedanke schmerzt selbst mir. Darauf könnte ich gerade verzichten.

Phil gähnt hinter vorgehaltener Hand, woraufhin auch Papa und ich nicht anders können.
"Du bist schlimmer als ein Baby", beginnt Phil schmunzelnd. "Du lässt einem noch weniger Schlaf."
Ein ironisches Lächeln bildet sich auf meinen Lippen. Mit großer Überzeugung schenke ich ihm das. "Du hättest ja auch zu Hause bleiben und weiterschlafen können."
"Ach Quatsch, ich stehe das doch gern mit dir durch." Phils Zwinkern lässt mich nun doch ehrlich schmunzeln.
"Ja, ich gucke mir das gleich mal an... Ich musste gerade kurz in die Notaufnahme... Zehn Minuten, okay?"
Phil guckt sofort zu Papa. Die Stimme kennen wir doch alle mehr als gut.
"Ätzend. Können die nichts alleine regeln", murmelt die Stimme nach dem scheinbaren Telefonat leise vor sich hin, passend dazu weht ein weißer Kittel an der offenen Tür des Behandlungsraumes vorbei.
Und eben dieser Kittel kommt zwei Sekunden später rückwärts wieder zurück. Paula fällt alles aus dem Gesicht, als sie uns sieht. "Was macht ihr denn hier?"
Papa deutet schmunzelnd auf mich. "Unser Sorgenkind ist die Treppe runtergefallen."
Ihre Augenbrauen heben sich. "Um zwei Uhr nachts?"
Ich öffne meinen Mund, weiß jedoch nicht, was ich sagen soll.
"Sie war gerade beim Röntgen", springt Phil für mich ein, während Paula den Raum richtig betritt und mich mustert.
"Schulter und Fuß?", fragt sie Phil, der nickt. "Na zum Glück nicht dein Kopf."
"Waren laut Toni auch nur drei oder vier Stufen", beruhigt Papa schnell, denn Paula sieht schon irgendwie besorgt aus.
Ich sehe, dass Paula schon die nächste Frage stellen möchte, als ihr Telefon ein schrilles Klingeln von sich gibt.
Genervt stöhnt sie auf, setzt dann beim Telefonieren aber eine nette Stimme auf. "Ja... Ja, sofort... Bin unterwegs." Kaum hat sie aufgelegt, verdreht sie ihre Augen. "Die bekommen ehrlich nichts allein auf die Kette."
Phil muss grinsen. "Fühl dich doch geehrt, dass sie dich brauchen."
"Mhm, ich würde mich auch mal geehrt fühlen, wenn ich fünf Minuten Pause machen könnte", brummt sie zurück, was Phils Grinsen nur noch breiter macht. Er weiß immerhin genau, wovon sie redet.
Phil drückt Paula einen kurzen Kuss auf die Stirn, ehe sie wieder mit wehendem Kittel verschwindet.
Der Kittel, der einen bei Schnelligkeit so wichtig wirken lässt, wäre wohl der einzige Grund für mich, ein Medizinstudium zu machen.

"Glück gehabt", stellt Papa fest.
Ich möchte mich beherrschen, kann es dann aber doch nicht zurückhalten. "Glück gehabt", äffe ich ihn nach. "Ich habe keine Ahnung, wo du hier Glück finden kannst."
Phils Hand auf meiner unverletzten Schulter, die mich besänftigen soll, kann ich gerade nur schwer ertragen. "Es hätte auch gebrochen sein können", sagt Phil.
Verdammt, ja, das weiß ich. Das ist mir gerade aber herzlich egal. Es gibt für mich im Moment größere Probleme.
Papas Stirn legt sich in Falten. "Und du bist wirklich nicht mit dem Kopf aufgekommen?"
"Nein. Soll ich es nochmal wiederholen? Nein."
"Wesensveränderungen sind aber Anzeichen dafür", bemerkt er trocken. "Und eigentlich bist du nicht so zickig."
Ich muss auflachen. "Zickig?", wiederhole ich. Papa nickt. "Ich bin nicht zickig."
Phil schnaubt und unterdrückt sichtlich bemüht einen Lacher. "Na ja, wie mans nimmt", flüstert er, ehe er sich schnell auf den Fahrersitz flüchtet.
Papa parkt mich hinter Phil, ehe er sich neben mich setzt.
Verstauchter Fuß, geprellte Schulter. Glück. Vielleicht ist es das. Aber ich würde trotzdem gern die Ursache des Unfalls sehen. Die Ursache, die ich nicht mehr finden konnte.

Der Blinker klickt, als er sich ausstellt und sich das Lenkrad in seinen Ursprung dreht. Phil ist gerade in unsere Straße gebogen. Die Fahrt verlief schweigend. Wobei sich das Schweigen in mich gefressen hat, um in meinem Inneren zu randalieren. Laut zu randalieren.
Irgendwie muss ich das jetzt allein in die Hand nehmen. Antworten auf all die Fragen, die gestern noch so eingestaubt waren und mich nun glänzend anfunkeln.
"Es gibt nichts, was du wissen musst, du aber nicht weißt", ergreift Papa plötzlich das Wort.
Ich zucke unter seiner Stimme zusammen. Sie klingt beinahe verbittert.
"Deine Mutter ist abgehauen. Punkt. Du sollst dich nicht mit ihr belasten, das hat sie nicht verdient. Und du noch weniger." Er schluckt und steigt dann aus.
Abgehauen. Papa weiß also wirklich, worum sich meine Gedanken gerade drehen.
Abgehauen. Das Wort hallt in meinem Kopf nach.
Abgehauen. Weswegen?
Abgehauen. Dafür muss es doch einen Grund gegeben haben. Und den möchte ich wissen - verletzt dieser mich noch so doll.
Die aufgehende Tür reißt mich aus meinen Gedanken. Die kalte Luft schlägt mir entgegen und verteilt eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper.
Phil streckt mir seine Hand entgegen.

Vielleicht sollte ich mal mit Toni reden. Wenn ich es schlau anstelle, sagt er mir das, was er weiß. Wenn er denn etwas weiß.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |2/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt