56. Ruinen

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Wie der Bote gesagt hatte, war das Dan-de-Lion-Anwesen bis auf die Grundfesten niedergebrannt

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Wie der Bote gesagt hatte, war das Dan-de-Lion-Anwesen bis auf die Grundfesten niedergebrannt. Auf ihrem Weg zu den nördlichen Plantagen hatte Iris sich ausgemalt, wie sie beim Anblick der schwarzen Mauern, der verkohlten Wiesen und kahlen Bäume auf die Knie sinken und in Tränen und Gejammer ausbrechen würde, doch als es schließlich soweit war, fühlte sie nur eine dumpfe, irgendwie trübe Leere. Als wäre ihr Herz ein verlassener Ballsaal voller Nebel.

Tuna schwang sich vom Pferderücken und näherte sich dem Gebäude, dessen Überreste wie ein Gerippe in den hellroten Abendhimmel ragten. Anders als beim Brand im Forelli-Anwesen hatten die Flammen von dem herrschaftlichen Gebäude aus weißem Albinobirkenholz kaum etwas übrig gelassen. Nur der Säulenvorbau und der Kamin wirkten einigermaßen unversehrt. Wie Mahnmale hoben sie sich gegen die rötliche Abenddämmerung ab.

Erinnerungen fluteten Iris' Kopf. Bewegte Bilder. Visionen einer Vergangenheit, die ihr unendlich weit entfernt erschien. Wie sie mit ihren Brüdern durch die Gärten und Plantagen gestreift war, auf der Suche nach Geheimnissen, Abenteuern und den kleinen Granfeja, die das Korn und die Früchte wachsen ließen. Wie ihr Vater immer in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda gesessen und an einer langstieligen Pfeife gesogen hatte. Wie ihr Bruder Valerian beim Spielen mit dem Schlagball eines der Fenster eingeworfen hatte. Wie Mupp den Kuchen auf dem Fensterbrett gefressen hatte, und wie Poppy ungefähr eine Woche lang geglaubt hatte, Lavender hätte ihr einen Streich gespielt. Wie die Seidenraupen ihr Haus in einem besonders warmen Herbst komplett eingesponnen hatten, sodass es einem riesigen, silbrigen Kokon geglichen hatte. Wie sie bei Gewitter alle zusammen im Wettersalon geschlafen und sich Gruselgeschichten über die Witterhexen erzählt hatten.

Diese und tausend andere Bilder flimmerten durch Iris' Gedanken. Doch das alles war jetzt Vergangenheit. Sie konnte sich nicht länger einreden, dass alles gut werden würde. Es gab keine Zuflucht mehr. Kein Versteck vor den Übeln der Welt. Keine Heimat, die wie ein Silberstreif am Horizont auf sie wartete. Sie war auf sich gestellt. Zum ersten Mal seit dem Zeitpunkt ihrer Geburt fühlte sie sich vollkommen allein.

Mit klammem Herzen beobachtete Iris, wie Tuna vor der Treppe zur Veranda – oder dem, was davon übrig war – stehenblieb. Der schneidende Herbstwind fegte über das flache Land, trieb verkohlte Maulbeerbaumblätter vor sich her, heulte ein Klagelied im Kaminschacht und zerrte an Tunas ungekämmten Haaren.

In der Ferne stiegen pechschwarze Rauchfahnen auf. Vermutlich war das Feuer auf den nördlichen Plantagen noch nicht erloschen. Iris' Vater hatte eine unkontrollierte Brandentwicklung immer gefürchtet und die Baumreihen durch Gräben und Schneisen voneinander trennen lassen, um ein rasches Übergreifen der Flammen zu verhindern. Die Soldaten des Königs – für Iris gab es keine Zweifel, dass König Fridur oder einer seiner Handlanger dahintersteckte – mussten die ganze Plantage angezündet haben. Als hätten sie sicherstellen wollen, dass nicht eine einzige Seidenmotte überlebte. Als hätten sie aus purem Hass das Lebenswerk ihres Vaters vernichten wollen. Bei diesem Anblick schmerzte Iris' Brust und ihr Hals zog sich zusammen, als würde ihr ein Henkersstrick umgelegt.

Die Forelli-Dynastie: Göttlicher ZornWo Geschichten leben. Entdecke jetzt