»Tuna?«, flüsterte Iris, während sie um die nächste Ecke spähte und in das schier endlose Tunnelgeflecht des Wickerbaus lauschte. Die Pechfackeln an den Wänden knisterten leise. Irgendwo tropfte Wasser.
Ihre Hand schloss sich fester um den Griff des Dolchs. Die Pistole hing in Kniepers Gürtel, den sie sich umgebunden hatte und der nun locker um ihre Hüfte lag. Tuna hatte ihr eingeschärft, die Schusswaffe nur im absoluten Notfall zu benutzen, um keinen unnötigen Lärm zu verursachen und Banditen anzulocken. Diese Vorsichtsmaßnahme schien jedoch vollkommen überflüssig zu sein, denn die Gänge im Innern des Wickerbaus waren verlassen. Wie verwaiste Maulwurfsbauten zogen sie sich durch den gigantischen Felsen. Einige der Tunnel und Höhlen sahen aus, als wären sie auf natürliche Weise entstanden, andere zeigten deutliche Spuren menschlicher Bearbeitung. Trotzdem haftete dem Ort etwas Unwirkliches an. Als wäre er nicht von der Natur, sondern von göttlichen Händen geformt worden. Oder durch Magie.
Iris schluckte schwer und tastete sich in den nach rechts abzweigenden Korridor. Die gewölbte Decke war von streifenförmigen, rötlichen Ablagerungen durchzogen. Bestimmt handelte es sich dabei um Eisenvorkommen. Vielleicht gab es hier unten auch noch andere, wertvollere Erze. Etwas weiter hinten, wo der Tunnel eine Biegung machte, waren zwar keine weiteren Gesteinsablagerungen, aber dafür krakelige Felsmalereien zu erkennen.
Vorsichtig schlich Iris den Gang hinunter und betrachtete die groben Zeichnungen, die sich über die Wände und das niedrige Deckengewölbe spannten. Ganz ähnliche Kunstwerke hatte sie auch schon bei ihrem Eintreffen am Wickerbau bestaunen dürfen. Die Bilder zeigten wilde, urtümliche Motive, die ihrer bescheidenen Meinung nach auch gut ins Totenreich gepasst hätten. Allerdings bezweifelte sie, dass die Bewohner des Jenseits ein großes Interesse an Kunst hatten. Sheitani hatte sich jedenfalls nie durch besonderen künstlerischen Geschmack hervorgetan.
Zwischen den Malereien prangten in unregelmäßigen Abständen Blomlore-Schriftzeichen, die jedoch zu alt und verwittert waren, um sie zu entziffern. Zusammen mit den Bildern, die bei jedem Schritt martialischer wurden, vermutete Iris jedoch, dass sie ein blutrünstiges Kriegsgeschehen beschrieben.
Eine der Zeichnungen ließ sie verwundert innehalten. Sie zeigte einen dichten Wald, aus dem ein hoher Turm ragte – und aus der Turmspitze schossen gezackte Blitze.
Der Anblick löste etwas in ihr aus. Keine Vision. Eher einen Zustand betäubter Überraschung, der sie für einige Sekunden vollkommen unfähig machte, einen klaren Gedanken zu fassen. Das Flüstern in den Wänden schwoll zu einem ohrenbetäubenden Knistern an. Es konnte unmöglich allein von tuschelnden Nagetieren stammen. Etwas versuchte, zu ihr durchzudringen. Es zog und zerrte am Schleier, der die Welten voneinander trennte. Schrie auf der anderen Seite eines spiegelglatten Gewässers. Doch alles, was Iris davon mitbekam, waren die Luftblasen, die an der Wasseroberfläche zerplatzten.
Plötzlich wurde sie an der Schulter gefasst und herumgezerrt. »Was machst du denn da?«
Iris blinzelte. Das Licht der Fackeln kam ihr plötzlich ungewöhnlich grell vor. »Tuna?«
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Die Forelli-Dynastie: Göttlicher Zorn
FantasyNach den dramatischen Ereignissen des letzten Buchs gehen die junge Landadelige Iris Dan de Lion und der Unterhändler Zander Arryba getrennte Wege. Während es Zander und Salmon auf der Jagd nach dem Hofmagier Kanto Dan de Nowy ins verschneite Myr Pa...