71. Der Schleier teilt sich

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Die Findling pflügte immer weiter stromaufwärts

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Die Findling pflügte immer weiter stromaufwärts. Am Abend hatten sie bereits Stermund erreicht. Auch hier brannten die Tempel. Genau wie das Schloss des Flussgrafen, das sich wie ein altertümliches Mahnmal über den Riu Ida erhob. Der Besitzer, Vingalt Dan d'Eyster,  war als besonders streng bekannt. Mit eiserner Hand hatte er die königlichen Zollvorgaben umgesetzt und sich dabei auch noch – so sagte man – in die eigene Tasche gewirtschaftet. Möglicherweise war das der Grund, aus dem sein Zuhause brannte. Vielleicht hatte er weder Geld noch Soldaten an den König abtreten wollen. Vielleicht hatte er sich seinem Herrscher widersetzt, genau wie Iris' Vater. Es wäre womöglich das erste Mal, dass sie etwas gemeinsam hätten.

Der Gedanke verursachte ein dumpfes Pochen in Iris' Brust und schnürte ihr den Hals zu. Wie es ihrem Vater wohl gerade erging? Hatten sie ihn nach Myr Paluda gebracht? Saß er in der Eiskammer, diesem schrecklichen Gefängnis unter dem großen Blauen, in einer Zelle aus Frost, Kälte und Verzweiflung? Stimmte es, was Poppy über ihre Familie gesagt hatte? Hatten sie sich all die Jahre vor ihr gefürchtet? Verfluchten sie Iris für das, was sie ihnen eingebrockt hatte?

»Iris!«

Tunas Stimme schnitt durch den Nebel ihrer Gedanken wie ein Fallbeil.

Iris hob den Kopf und blinzelte in das fahle Mondlicht, das den Riu Ida in eine Straße aus mattem Quecksilber zu verwandeln schien. Langsam wanderte ihr Blick zu den orangefarbenen Papierlampions, die das Oberdeck der Findling erhellten. Mücken und Motten tanzten um die Lampen herum. Ihr Summen und Surren mischte sich mit dem Schnurren und Schnaufen der Maschinen und dem dem rhythmischen Stampfen der Schaufelräder.

»Du sollst die Gedanken akzeptieren«, sagte Tuna, die neben ihr auf dem Oberdeck kniete und bei diesen Worten mit einer Hand durch die Luft wedelte, um ein paar besonders aufdringliche Insekten zu vertreiben. »Und sie vorbeiziehen lassen wie harmlose Schönwetterwolken.«

Iris schniefte und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Ihre Nasenspitze prickelte unangenehm. »Tut mir leid. Ich ... ich versuch's nochmal.«

»Vielleicht solltest du dich lieber etwas aus-«

»Nein!«, schnappte Iris, korrigierte ihre Position und legte die Hände auf den Oberschenkeln ab. Die Haltung einer beflissenen Tempeldienerin oder die eines Aciarischen Kriegers, der dem General sein Schwert präsentierte und auf neue Anweisungen wartete. Mit Gewalt verbannte sie die Gedanken an ihren Vater in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins. Es ist nicht das erste Mal, dass du dich so fühlst. Du wirst dafür sorgen, dass es vorübergeht. Ganz egal, was es dich kostet, sagte sie dabei zu sich selbst. Ganz egal, was es dich kostet.

Sie stellte sich einen Aciarischen Krieger vor. Einen Hünen. Zwei Meter groß, mit Armen wie Baumstämme, einem schwarzen Teint und breiten Schultern. Einen Mann, den nichts erschüttern konnte. Das wollte sie sein. Unberührbar. Mutig. Stark.

Außerdem wäre es bestimmt schön, ein Mann zu sein. Ja, Iris war der Meinung, sie würde einen guten Mann abgeben. Bestimmt sähe sie so aus wie ihre Brüder. Wie Ivo, mit seinem lustigen blonden Lockenschopf. Als Mann könnte sie bestimmt gut mit dem Schwert oder der Büchse umgehen und sie würde jeden Tag Gewichte stemmen, um Arme wie ein Fischer zu bekommen und allen Mädchen mit ihren Muskeln und der haarigen Brust den Kopf zu verdrehen.

Die Forelli-Dynastie: Göttlicher ZornWo Geschichten leben. Entdecke jetzt