Trandafir. Iris erinnerte ihre Heimat als ein verspieltes Arrangement aus goldenen Feldern, grünen Wiesen, sanften Hügeln und kleinen Bächen. Sie erinnerte sich an geheimnisvolle Weiher, blühendes Korn, knarrende Mühlräder, niedrige Fachwerkhäuser, spielende Kinder, brütende Entenfamilien, dampfende Fabriken, Maulbeerbäume und Bienenstöcke. Wenn sie die Augen schloss, spürte sie den warmen Wind im Haar und roch den Duft von frisch gebackenem Brot, Heu und Sommerregen. In ihrem Kopf war Trandafir eine unberührte Idylle. Unangetastet von den Intrigen und Machenschaften der Hauptstadt. Ein riesiges Dorf, in dem jeder jeden kannte. Die Frauen trugen bunte Seidenkleider mit ausgestellten Röcken und Wiesenblumen im Haar. Die Männer arbeiteten auf den Plantagen oder in den Fabriken am Ufer des Riu Ida. Alles geschah mit einer gewissen Gemütlichkeit. Vielleicht, weil die Menschen wussten, dass Morgen ein weiterer schöner Tag sein würde und es daher überhaupt keinen Grund zur Hektik gab.
Doch als Iris und Tuna die Ausläufer der Stadt erreichten, wich ihre Wiedersehensfreude einer unangenehmen Ernüchterung. Nicht nur, dass der Herbst Einzug gehalten hatte, der Himmel grau und die Wege schlammig waren, es wimmelte auch von Stadtwächtern und Soldaten aus der königlichen Hauptstadt.
»Bei Eldurs Barte«, murmelte Iris, als sie vom Wagen der Spielleute kletterten. Am südlichen Stadttor herrschte ein ziemliches Gedränge. Das war nicht weiter unüblich. Immerhin mussten die Reiter und Kutschen, die in die Stadt gelangen wollten, nach Zollgütern durchsucht werden. Ungewöhnlich war, dass die Zöllner bei ihrer Arbeit von Soldaten in weißen Uniformen begleitet wurden, die ihre Degen und Schusswaffen gut sichtbar am Gürtel oder über der Schulter trugen.
»Komm!« Tuna wartete nicht, bis sich die Spielleute verabschiedet hatten, sondern legte ihren Säbel ab, packte Iris an der Schulter und schob sie zu einer Gruppe junger Frauen, die den letzten Weißkohl des Jahres von den Feldern außerhalb der Stadt geerntet haben mussten. Sie sahen ungefähr genauso dreckig und müde aus wie Iris und Tuna.
Gemeinsam taumelten sie die schlammige Straße hinunter und über die Steinbrücke am Rudvichsarm zum Sudentor. Aufgeschreckte Hühner wuselten zwischen den Pferden, Fuhrwerken und Gespannen umher. Kleine Kinder warteten an den Händen ihrer Mütter. Mit großen, ängstlich aufgerissenen Augen. Und überall Frauen. Alte Frauen, junge Frauen, Mädchen. Großmütterchen, die Körbe mit Essen auf den Armen trugen. Adrett gekleidete Damen, die Kutschen lenkten. Mädchen, die im Herrensitz auf viel zu großen Wynlandpferden saßen und ungeduldig mit den Zöllnern diskutierten.
Iris wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte. Bei jedem lauten Geräusch zuckte sie erschrocken zusammen. Ein wieherndes Pferd, das Schnauben eines Dampfkessels, ein weinendes Baby. Hätte Tuna sie nicht erbarmungslos mitgeschleift, wäre sie vermutlich nie beim Sudentor angekommen. Die Torwächter, die das traditionelle Lehmbraun der Trandafirer Stadtwache trugen, winkten sie vorbei. Iris senkte den Blick, um nicht erkannt zu werden, auch wenn es dessen in Anbetracht ihres Aufzugs vermutlich nicht bedurft hätte.
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Die Forelli-Dynastie: Göttlicher Zorn
FantasyNach den dramatischen Ereignissen des letzten Buchs gehen die junge Landadelige Iris Dan de Lion und der Unterhändler Zander Arryba getrennte Wege. Während es Zander und Salmon auf der Jagd nach dem Hofmagier Kanto Dan de Nowy ins verschneite Myr Pa...