89. Auf umschlungenen Wegen

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Zander hatte keine Ahnung, wie lange er schon unterwegs war

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Zander hatte keine Ahnung, wie lange er schon unterwegs war. Er wusste nur, dass es zu spät zum Umkehren war. Zu spät, um Xyla mitzuteilen, dass er es sich anders überlegt hatte. Dass ihm Zweifel gekommen waren. Seine Erfahrung sagte ihm, dass er es sich ohnehin nicht leisten konnte, Bedenken zuzulassen. Wenn man tief hinab in die Kälte tauchte, durfte man keine Sekunde lang an sich selbst oder seinen Fähigkeiten zweifeln. Denn der Tod witterte Schwäche wie ein Wolf seine Beute. Man musste ihm erhobenen Hauptes begegnen. 

Doch Zweifel hatten die unangenehme Eigenschaft, sich im Kopf festzukrallen. Man konnte sie für eine Weile unterdrücken und sich selbst belügen, aber irgendwann brachen sie aus einem heraus. Zum Beispiel dann, wenn man müde und erschöpft war und sich eingestehen musste, dass die Karte, der man in den vergangenen Tagen gefolgt war, nicht ganz mit den örtlichen Gegebenheiten übereinstimmte.

Seit Zander vor einer Weile auf die erste Unstimmigkeit gestoßen war, bekam seine Überzeugung, das Labyrinth des Schneeleus ohne größere Probleme bewältigen zu können, lange und tiefe Risse. Sein Selbstvertrauen zerbröselte schneller als ein jahrhundertealter Brotlaib. Zu allem Überfluss verzieh der eisverkrustete Boden keine Unaufmerksamkeit oder Gangunsicherheit. Mehrfach wäre Zander schon beinahe gestürzt, weil er eine Unebenheit übersehen oder die Kontrolle über seine Glieder überschätzt hatte. Die gewölbten Eismauern schienen zunehmend näher zu rücken und die Kälte kroch ihm mit jeder verstreichenden Stunde tiefer unter die Haut. Dabei schien sie ihm die Kraft auszusaugen wie ein bösartiger Nachtalb. Wasser mochte sein Element sein, aber im flüssigen Zustand wäre es ihm deutlich lieber gewesen.

Zander hatte mit sich selbst vereinbart, unterwegs keine Pausen einzulegen. Er wusste, wenn er sich irgendwo hinsetzte, bestand die Gefahr, nie wieder aufzustehen. Also klemmte er sich Karte und Laterne unter den Arm und knabberte im Gehen mit steif gefrorenen Fingern ein wenig gesalzenen Fisch. Das Eis um ihn herum war schwarz wie Teer und glänzte feucht. Als wäre ich in die Gedärme eines Myrkuren geraten, dachte Zander. Nur dass es dort vermutlich wärmer gewesen wäre.

Nachdem er gegessen hatte, warf er zum tausendsten Mal einen Blick auf die Karte. Der Plan war nicht verkehrt, aber ungenau. Als hätte sich das Labyrinth in den vergangenen Jahren um einige Meter verschoben. Vielleicht als Folge von Erdbeben oder Tauvorgängen. Vielleicht hatte Myr Paluda einen besonders heißen Sommer erlebt, der die Architektur des Eises verändert hatte. Wie auch immer, er musste seinen Weg fortsetzen und das Beste aus seiner Situation machen.

Stundenlang wanderte Zander durch die Kälte. Längst konnte er sein Gesicht nicht mehr spüren. An seinen Wimpern hatten sich kleine Eiskristalle gebildet. Er fragte sich, wie die Gefangenen im Innern der Eiskammer mit Lebensmitteln versorgt wurden. Oder überließ man sie einfach sich selbst und damit dem unausweichlichen Kälte- oder Hungertod? Zander wusste, dass er sich nicht mit derartigen Gedanken quälen durfte. Sie raubten ihm die letzte verbliebene Kraft. Und wenn es einen Weg gab, in dieser unwirtlichen Umgebung zu überleben, würde Salmon ihn finden. Ganz bestimmt. Er war schlau. Viel schlauer als Zander oder Tuna. Vielleicht sogar schlauer als Rogner. Und er war erfinderisch. Aus diesem Grund hatte er sich schon immer sehr gut mit Enzia verstanden.

Die Forelli-Dynastie: Göttlicher ZornWo Geschichten leben. Entdecke jetzt