Bonus: Der Wind dreht

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Der Traum verblasste und der Schleier lüftete sich

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Der Traum verblasste und der Schleier lüftete sich. Die Zahnräder, die bis dahin stillgestanden hatten, setzten sich knirschend wieder in Bewegung. Begleitet von einem langgezogenen Jaulen, schälten sich die Umrisse von Schränken und Kommoden aus dem Nebel. Wie verblassende Farbe auf einer wabernden Leinwand. Licht brach in langen, goldenen Strahlen durch den Dunst und Vorhänge raschelten in einem plötzlich aufkommenden Wind. Die Luft bekam ihren Geschmack zurück. Nach Metall und Salzwasser und Fisch.

Rogner blinzelte und wischte sich den Gries aus den Augenwinkeln. Er musste lange geschlafen haben. Viel zu lange.

Mit einer unschönen Vorahnung und einem klaffenden Loch im Magen setzte er sich auf und betastete seinen Oberkörper, um festzustellen, ob er verletzt war. Wider erwarten in Anbetracht seiner letzten Erinnerungen lautete die Antwort auf diese Frage: nein. Anschließend klopfte er mit der flachen Hand auf seine Ohrmuschel, um das hohe Jaulen und Wimmern zu vertreiben. Doch das Geräusch blieb. Manchmal wurde es von eigenartigen Grunzlauten unterbrochen.

Neugierig geworden, richtete Rogner seinen Morgenrock und schwang die Beine aus dem Bett. Dabei bemerkte er Morena, die sich vor dem Fenster in einem Korbstuhl zusammengerollt hatte und schlief. Sie trug ein ozeanblaues Seidengewand mit weiten Ärmeln und hatte sich mit einer Wolldecke zugedeckt, die jedoch zum Teil heruntergerutscht war. Die langen, ebenholzbraunen Haare fielen ihr offen über die Schultern und verdeckten ihr Gesicht. Neben ihr auf der Fensterbank stand eine geöffnete, halb volle Flasche Rotwynn.

Rogner schmunzelte und humpelte auf Beinen, die sich bedeutend schwächer anfühlten als er es von sich gewohnt war, zu seiner Gemahlin. Während er sie wieder zudeckte, warf er einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne schien, aber die Dächer von Myr Ryba waren mit einer feinen Schneeschicht bedeckt und die Kanäle teilweise zugefroren. Rogner wurde klar, dass er wirklich lange geschlafen haben musste. Und sein eher spärliches Begrüßungskomitee ließ darauf schließen, dass niemand mit seinem Erwachen gerechnet hatte. Bestenfalls. Die Alternative wollte er sich lieber nicht ausmalen. Jedenfalls noch nicht.

Stattdessen folgte er dem jetzt rasch anschwellenden Jaulen in den angrenzenden Raum, der ausgesprochen liebevoll eingerichtet war – von den eierschalengelben Seidentapeten, über die gerahmten Tier-Lysographien an den Wänden und die Schalen mit beruhigend duftenden Kräutern auf den Kommoden, bis hin zu den hübschen Möbeln aus milchweißem Altarivaer Albbaumholz. In einer zerbrechlich aussehenden Wiege mit Einlegearbeiten aus Perlmutt und Elfenbein lag ein Kleinkind von vielleicht ein drei oder vier Monaten und strampelte heftig mit den kurzen Armen und Beinen. Ein Mädchen. Das konnte Rogner dem Kind ansehen. Vielleicht an den weichen Gesichtszügen, den langen Wimpern oder den großen, grünblauen Augen, die es beim Schreien zusammengekniffen hatte, aber jetzt überrascht aufriss.

»Du musst dann wohl Koralie sein«, sagte Rogner.

Eine seltsame Befangenheit erfasste ihn. Er dachte daran zurück, wie er Cyan zum ersten Mal im Arm gehalten hatte. Direkt nach der Geburt, noch ganz rot im Gesicht und zerknautscht wie ein alter Spüllappen. Da sein Sohn ein paar Wochen zu früh zur Welt gekommen war, hatte Rogner ihn damals nicht lange halten dürfen. Die Ärzte und Heiler seiner ersten Frau – die meisten davon reine Quacksalber – hatten ihm das Kind förmlich aus den Armen gerissen, um es in eine Art Brutkasten, wie sie sonst für Hühnereier verwendet wurden, zu stecken. Bei Enzia war es dagegen ganz anders verlaufen. Wegen dem Gesundheitszustand seiner Frau, ihren Schwächeanfällen, Stimmungsschwankungen und Wutausbrüchen, war Enzia schon wenige Tage nach der Geburt zu seiner Aufgabe geworden. Und weil seine Tochter jede Amme verweigert hatte, hatte er sie mit der Flasche großziehen müssen. Aus irgendeinem Grund war er der einzige Mensch gewesen, bei dem sie nicht zu Brüllen und Toben angefangen hatte.

Die Forelli-Dynastie: Göttlicher ZornWo Geschichten leben. Entdecke jetzt