27. Heiland und Hexe

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Iris mischte sich unter die Menge, die sich auf dem Marktplatz von Wida versammelt hatte

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Iris mischte sich unter die Menge, die sich auf dem Marktplatz von Wida versammelt hatte. Im Zentrum des Platzes befand sich ein holzüberdachter Ziehbrunnen. Anders als in den großen Städten kannte man in den ländlicheren Gegenden Materras noch keine Wasserleitungen, was den Dorfbrunnen zum gesellschaftlichen Mittelpunkt jeder Stadt machte. Direkt dahinter, unter dem Vordach des Rathauses, war eine kleine Bühne errichtet worden, die vermutlich für Verkündungen, Hochzeiten und Hinrichtungen genutzt wurde. Der Platz wurde von Gaslaternen gesäumt, die ein weiches, aber ziemlich unstetes Licht spendeten, das die Anspannung auf den Gesichtern der Versammelten noch betonte. Die Luft war so zäh, dass sie sich nur schwer atmen ließ. Dazu kamen der Gestank von Novomagica und der Körpergeruch verängstigter Menschen, die sich dicht aneinander drängten, um einen Blick auf den königlichen Boten zu erhaschen. 

Iris atmete flach durch den Mund und zog sich die Kapuze weit ins Gesicht. Von ihrer Position aus konnte sie sehen, wie der Reiter von seinem Pferd abstieg und dadurch für einen kurzen Moment aus ihrem Sichtfeld verschwand. Dann tauchte er wieder auf und stieg die Treppe zur Bühne hinauf. Obwohl er keine beeindruckende Erscheinung war, ging ein Raunen durch die Menge. Auch Iris konnte sich der angespannten Atmosphäre nicht entziehen. Die Nervosität brachte ihre Brust zum Flattern und schlang sich unangenehm um ihre Gedärme. Ihr Blick wanderte über die Fachwerkhäuser, die den Platz umgaben. Auf den Laternen hockten Nuntiere und beobachteten das Geschehen aus kalten, schwarzen Augen. 

Ein Kreischen lenkte Iris' Aufmerksamkeit und die der anderen Zuschauer auf den Myrkuren, der in diesem Moment auf dem spitzen Schindeldach des Rathauses landete. Aus der Nähe betrachtet, wirkte er noch furchterregender. Sein Körper war bleich und knochig, wie ein lebendig gewordenes Skelett. Die Haut, die sein Gerippe zusammenhielt, war papierdünn und durchscheinend. Sein Gesicht wirkte bis auf die gelben Augen und Nasenschlitze beinahe menschlich. Ein starres Grinsen lag auf seinen durchsichtigen Lippen. Dabei wurden zwei Reihen Schneide- und Backenzähne sichtbar, die denen eines Menschen zum Verwechseln ähnlich sahen. Etwas an diesem Anblick beunruhigte Iris so sehr, dass sie rasch den Blick abwandte. 

»Bürger von Wida!«, erklärte der Bote, trat an den vorderen Rand der Bühne und hob beschwichtigend beide Arme. Grüner Nebel stieg bei dieser Bewegung von seinem Körper auf. »Hört mich an. Hört die Worte eures geliebten Königs.«

Unter normalen Bedingungen waren bei solchen Ansprachen immer ein paar spöttische Kommentare zu vernehmen, doch dieses Mal blieb die Menge stumm. Die meisten Bewohner hatten vermutlich noch nie einen Myrkuren gesehen. Aber natürlich hatten sie von den Angriffen auf die Adeligen gehört und von den schrecklichen Kreaturen, die dafür verantwortlich sein sollten. Zweifellos musste es einen Großteil der einfachen Bevölkerung mit Schadenfreude erfüllt haben, vom Schicksal ihrer adeligen Mitbürger zu erfahren, doch jetzt war von Häme nichts mehr zu spüren. Kleinlaut und buckelig erschienen die Menschen zu Füßen ihres Scharfrichters, wie Lämmer, die sich widerstandslos aufs Schafott führen ließen. 

»Bürger von Wida!«, wiederholte der Bote und seine kräftige Stimme hallte über den Platz. »Es wird Krieg ausbrechen.«

Iris rutschte vor Schreck das Herz in die Hose. Sie hatte mit vielen Ankündigungen gerechnet, doch diese Worte versetzten ihr einen Stich, der ihr bis ins Mark ging. Krieg. Kein andere Aneinanderreihung von fünf Buchstaben war in ihrem Herzen mit so viel Leid und Verderben verbunden - und das obwohl sie im Grunde gar nicht wusste, was Krieg bedeutete. Auch ihre Eltern und Großeltern hatten nie in einer Schlacht gekämpft. Die letzten Kriegshandlungen hatten vor 150 Jahren stattgefunden, als König Regulus ausgezogen war, um die Hafenstadt Myr Ryba zu erobern. Und wie jeder wusste, war es damals nicht zu einer Schlacht gekommen. Demnach lag der letzte echte Krieg ungefähr 300 Jahre zurück. Damals hatte König Ladislaus die unbelehrbaren Anhänger des alten Glaubens hinter die Wodland-Berge vertrieben. Und nun sollten die schrecklichen fünf Buchstaben zurück sein? Weshalb?

Die Forelli-Dynastie: Göttlicher ZornWo Geschichten leben. Entdecke jetzt