61. Ein bekanntes Gesicht

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Am Morgen nach ihrem Gespräch mit Poppy wollten Iris und Tuna der Stadt endgültig den Rücken kehren

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Am Morgen nach ihrem Gespräch mit Poppy wollten Iris und Tuna der Stadt endgültig den Rücken kehren. Sie verließen das Veilchen, eines der wenigen Gasthäuser, das noch geöffnet hatte, und eilten durch das Witwen- und das Weberviertel zum Fluss hinunter. Die Luft war angenehm kühl, aber unangenehm von Feuchtigkeit durchtränkt.

Vagrebtes Niselwitter, hätte Poppy geschimpft. Jedenfalls die alte Poppy.

Im fahlen Tageslicht, das sich seinen Weg durch eine tief hängende, grau melierte Wolkendecke bahnen musste, glänzten die dunklen Mansarddächer entlang der Hauptstraßen wie frisch glasiert. Auf der anderen Flussseite, wo sich die Häuser der wohlhabenden Bürger befanden, schimmerten die tönernen Dachschindeln wegen des beim Brennen verwendeten Quarzsands in den Farben des jeweiligen Stadtviertels: rot im Rosenviertel, gelb im Narzissenviertel, blau im Asterviertel und weiß im Lilienviertel.

In der Ferne ragten die Schornsteine der außerhalb gelegenen Seidenmanufaktur aus dem frühmorgendlichen Dunst. Normalerweise spuckten sie mehrmals am Tag heißen Wasserdampf, doch derzeit schien die Seidenproduktion stillzustehen. Vermutlich weil die Soldaten des Königs die Mehrzahl der Fabrikangestellten, Raupenpflücker und Plantagenarbeiter mitgenommen hatten. Mal ganz davon abgesehen, dass sie die nördlichen Maulbeerbaum-Plantagen vollständig niedergebrannt und damit auch alle Seidenraupen und Kokons vernichtet hatten. Das wiederum musste die meisten Färber und Weber – Tätigkeiten, die nicht selten von Frauen ausgeführt wurden – arbeitslos machen. Ein Schaden, der sich nicht so schnell wiedergutmachen lassen würde.

Wie selbstverständlich übernahm Iris die Führung und lotste Tuna am Riu Ida entlang, der sich durch die Stadt wälzte und dabei das uneinheitliche Grau des trüben Himmels reflektierte. Obwohl es noch früh am Morgen war, waren bereits viele Menschen unterwegs – vornehmlich Alte, Frauen und Kinder. Sie trieben Nutztiere vor sich her oder führten vollbeladene Eselkarren an der Hand. In langen Prozessionen bewegten sie sich den Riukant – wie die Promenade des Riu Ida von den Einheimischen genannt wurde – hinunter. Auf der linken Seite der Flanierwege lagen kleine, bunt angestrichene Geschäfte und Boutiquen, in denen Iris früher gerne Kleider und Schmuck gekauft hatte. Die meisten von ihnen hatten derzeit geschlossen. Dunkel und finster wirkten die sonst so einladend erleuchteten Fensterhöhlen. Vom weiter südlich gelegenen Bankhaus stieg erkaltender Rauch in den regengrauen Himmel.

»Vorsicht!« Tuna packte Iris am Arm und zog sie zur Seite, sodass eine Kutsche mit weißem Lederverdeck passieren konnte. »Hey! Pass doch auf, du Bürstling!«, rief Tuna dem Kutscher hinterher, der ihnen jedoch nicht die mindeste Beachtung schenkte.

Iris sah dem Gefährt nach. Anscheinend waren auch die wohlhabenderen Bürger auf der Flucht. Diese Vermutung bestätigte sich beim Blick auf die nördliche Riubriva. Auf der Brücke hatte sich eine lange Schlange aus Kutschen und Reitern gebildet. In einem der vordersten Wagen, einem halboffenen Gespann mit hellen Polsterbänken, saßen zwei junge Mädchen in hübschen, veilchenblauen Reisekleidern und mit blütenweißen Hauben auf den langen, dunkelbraunen Haaren. Vielleicht die Schwestern von Lilian, dachte Iris. Doch dann fiel ihr wieder ein, dass die Schwestern ihrer verstorbenen Kindheitsfreundin schon über zwanzig Jahre alt sein mussten und vermutlich längst irgendwo ans andere Ende des Landes verheiratet worden waren. 

Die Forelli-Dynastie: Göttlicher ZornWo Geschichten leben. Entdecke jetzt