#30 Mirko: Tor zur Hölle

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Warum nur war ich so blöd?

Ja, ich war besoffen und ich hätte es besser wissen sollen. Ich hatte meinen besten Freund, nein, meinen ex besten Freund, Sebi geküsst. Oder besser gesagt, ich hatte es versucht, denn er hatte mich weggeschubst und mir seine Faust ins Gesicht gesetzt. Seitdem habe ich weder ihn noch irgendwen anders von meinen Freunden gesehen oder gesprochen.

Es hat also sicher schon die Runde gemacht. Habe ich überhaupt noch Freunde? Das werde ich nun gleich herausfinden. Ich stehe vor dem roten Backsteingebäude meiner Integrierten Gesamtschule, wo ich die 10. Klasse besuche. Es ist der erste Schultag nach den Osterferien. Tief atme ich noch einmal ein bevor ich die Schule betrete und mich auf den Weg in mein Klassenzimmer mache.

Kaum bin ich eingetreten, wird es still, zu still in dem Raum. Alle schauen mich an, das sehe ich noch bevor ich meinen Kopf senke und versuche schnell zu meinem Platz zu kommen. Aber bis dahin komme ich nicht, denn ich stolpere über ein vorgestrecktes Bein und lande im Gang. Schnell rappele ich mich auf und als ich hochblicke sehe ich direkt in das Mondgesicht von Mehmet. Er blickt mich voller Verachtung an und meint dann mit sarkastischer Stimme: "Oh ist unser Gaylord gefallen?" Dann spuckt er mir ins Gesicht und ich höre wie die Anderen lachen. Sehr viele der Anderen. Das wird die Hölle denke ich, aber was habe ich erwartet, ich habe das Tor zur Hölle doch selbst aufgemacht. Aufgeküsst sozusagen, selbst mein eigenes Hirn macht sich über mich lustig.

Mühsam komme ich wieder auf die Beine, aber immernoch steht Mehmet vor mir. Er hat eine Figur wie eine Kugel. Wenn er läuft ist das sozusagen eine Massenbewegung. Natürlich lässt er mich nicht vorbei: "Geh mir aus dem Weg Schwuchtel!" Ich weiche zurück, denn hinter ihm stehen so ziemlich alle Jungs aus meiner Klasse. Dann drängt er sich an mir vorbei und alle Jungs folgen ihm, jeder schaut mich an wie ein widerliches Insekt und fast alle spucken mich an.

Ich atme wieder tief ein und versuche den Kloß in meinem Hals wieder runterzuschlucken. Jetzt nur nicht heulen, das wollen die doch nur. Hastig laufe ich zu meinem Platz, doch bevor ich mich setzen kann, höre ich die wütende Stimme von Sebi: "Such dir einen anderen Platz! Du glaubst doch nicht, dass ich neben so einem wie dir noch sitzen will?!" Ich spüre wie mir erste Tränen in die Augen steigen und ohne richtig was zu sehen, stolpere ich zu dem einzigen noch freien Einzeltisch ganz vorne rechts in der Ecke. Dazu muss ich natürlich wieder an allen vorbei und ich höre Dino rufen: "Guck mal, jetzt heult er, voll das Opfer!" Mit zitternden Händen lasse ich mich auf den Stuhl fallen und greife nach einem Taschentuch mit dem ich mir den Rotz der anderen und meine Tränen aus dem Gesicht wische. Und das ist erst der Anfang. Ich habe jetzt schon Angst vor der ersten Pause. Von der Doppelstunde Englisch bekomme ich daher nur wenig mit.

Kaum, dass die Stunde herum ist, verlasse ich fluchtartig die Klasse und verbarrikadiere mich auf der entlegensten Toilette der ganzen Schule. Ich schnappe mir mein Smartphone nur um zu sehen, dass ein Video was mich zeigt wie ich bespuckt werde schon auf allen sozialen Medien die Runde macht. Fuck, aber war ja zu erwarten. Wundert mich eigentlich nur, warum das nicht schon in den Ferien die Runde gemacht hat.

Ich warte bis die Pause vorbei ist und haste zurück in meine Klasse. Mit einem gemurmelten "'tschuldigung" husche ich an meinem Mathelehrer vorbei und lasse mich auf meinen Sitz fallen. Er schaut mich kurz an, schüttelt den Kopf, sagt aber nichts. Irgendwer zischt "Schwuchtel!" in meine Richtung, aber ich schaue nur noch auf den Tisch.

Zur nächsten Pause habe ich kein Glück mehr. Erkan und Luca springen sofort auf und fangen mich schon im Flur ab. Sie verdrehen mir die Arme und zwingen mich auf die Knie. Dann kommt Mehmet das lebende Michelinmännchen auf mich zu und spuckt mir ins Gesicht: "Schwanzlutscher!" Aber das ist nicht das Schlimmste, denn nun steht Sebi vor mir und er schlägt mir links und rechts ins Gesicht. "Und sowas war mal mein bester Freund" angewidert schüttelt er seinen Kopf "ich könnte kotzen, so ein Kotnascher!" Ich muss kichern, bei Beschimpfungen ist Sebi echt kreativ. Ihn aber provoziert das nur, denn er tritt mir schwungvoll in den Bauch. Die Schmerzen schießen durch mich hindurch, mir wird übel und ich kippe nach vorne über. Jetzt lassen Erkan und Luca mich natürlich sofort los und schmerzhaft knalle ich Kopf voran auf die Fliesen. Irgendwann raffe ich mich auf und taumele zurück in die Klasse, als ich an Chantal vorbeikomme, lacht sie höhnisch auf und meint in Richtung ihrer Freundinnen: "Was ein Opfer!"

Jetzt noch Deutsch und dann habe ich es für heute überstanden. Aber wenn das jetzt jeden Tag so geht? Ich mag es mir garnicht vorstellen und ich habe Angst. Wird Angst jetzt mein ständiger Begleiter?

Zum Ende der letzten Stunde habe ich meine Sachen bereits gepackt und renne los. Ich schaffe es immerhin bis auf die Straße neben dem Schulgebäude. Aber da holen sie mich ein, schubsen mich gegen die Mauer und alle gleichzeitig schlagen und treten auf mich ein, selbst als ich schon am Boden liege und mein Gesicht schmerzgekrümmt mit den Händen schütze. Irgendwann lassen sie von mir ab und ich mache mich humpelnd auf dem Heimweg. Was soll ich auch machen? Es meiner Mutter erzählen? Dann erfährt die sicher warum die das mit mir machen. Und dann übernimmt es mein Vater mich zu verprügeln.

Ich könnte mich ohrfeigen. Warum nur habe ich nicht meine verdammten Lippen bei mir behalten?



Bild oben: So könnt ihr euch Mirko vorstellen.

Wer nach den Sternen greift.... (zensierte Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt