#68 Mirko & Tom: Nicht unter meinem Dach

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Mirko

Heute am Samstag, drei Tage nach meinem Geburtstag, ist DER Tag. Der Tag an dem ich die Bombe platzen lasse. Der Tag an dem ich meinen Eltern sage, dass ich einen Jungen liebe.

Ich habe in meinem Magen dieses flaue Gefühl der Angst und mein Herz schlägt mir vor Aufregung bis zum Hals während ich mühsam Angst und Aufregung niederkämpfe und in Schach zu halten versuche.

Vorsichtshalber habe ich schon meine Schulsachen in den letzten Tagen zu Tom geschafft und auch mein Laptop sowie mein Smartphone liegen bei ihm, meine SIM-Karte steckt in meinem uralten Handy. Und ich habe eine gepackte Reisetasche in meinem Zimmer stehen. Tom ist zwar alles andere als überzeugt, dass das nötig ist, aber ich befürchte das Schlimmste.

Mit meinen Eltern und meiner Schwester setze ich beim Frühstück als ich all' meinen Mut endlich zusammen nehme.
"Ich muss euch etwas sagen" erhebe ich meine Stimme und habe sofort die unteilte Aufmerksamkeit aller, "ich habe mich verliebt."
"Oh, ist es die Hübsche, die dich Mittwoch abgeholt hat?" quietscht meine Mutter in einem völlig unangemessenen Fangirl-Modus, während meine Schwester trocken kommentiert: "Wusste doch, dass du Sex hattest!"
Mein Vater hat so einen irren 'ich bin stolz du wirst ein Mann'-Blick drauf, grummelt dann aber: "Ich werde aber noch nicht Opa, nä!"
"Nein, Lisa ist es nicht" wende ich mich an meine Mutter und in einem Anfall von Tollkühnheit setze ich ein Lächeln auf als ich meinem Vater entgegne: "Da besteht keine Gefahr, er heißt Lucas!"

Totenstille!
Die Mimik meiner Eltern verzerrt sich zu Grimassen des Ekels und der Wut.

"Er?" echot mein Vater mit einer Stimme die nichts Gutes verheißt. Mit dem Trotz der Verzweiflung erwidere ich "Er, Lucas, das sagte ich."

"Das kann nicht sein" unerbittlich erhebt mein Vater seine Stimme, "mein Sohn ist nicht abartig!" Meine Mutter sieht nun eher aus, als fange sie gleich an zu weinen und jammert: "Aber Mirko...."

Mich überkommt eine kalte Wut, ich habe das alles so satt, erst in der Schule, jetzt meine Eltern, warum ist es so schwer mich so zu akzeptieren wie ich bin?
Mit brüchiger Stimme erwidere ich: "Ich bin dein Sohn, ich bin nicht abartig sondern schwul!"

"Mein Sohn ist kein Perverser!" mein Vater brüllt jetzt schon fast und sein Kopf läuft rot an. "Nun, dann gibt es zwei Möglichkeiten" fauche ich zurück, "entweder Schwule sind nicht pervers oder ich bin nicht dein Sohn!"
Meine Mutter erbleicht und mein Vater springt wütend auf, so dass der Stuhl nach hinten wegkippt, dann umrundet er erstaunlich behände den Tisch und baut sich vor mir auf: "Sag' das noch einmal und...."
"Und dann? Schlägst du mich?" Innerlich sterbe ich tausend Tode vor Angst, aber mein Trotz ist stärker.
Mein Vater holt aus und haut mir eine runter, dass es klatscht. Der Schmerz lässt mir Tränen in die Augen springen und dennoch schaffe ich es eiskalt rauszuhauen: "Überanstrenge dich nicht, mir das rauszuprügeln haben die schon in der Schule ohne Erfolg versucht."
Als Erstes versteht meine Mutter: "Die ganzen Verletzungen im April? Das waren keine Unfälle??"
Mit verbitterter Stimme fahre ich sie an: "Hast du wirklich gedacht ich stürze drei Mal die Woche mit dem Fahrrad?"

"Nicht unter meinem Dach!" brüllt mein Vater mich nun an. "Sowas ist nicht mein Sohn!"
Schnell schicke ich eine Nachricht an Tom, dass er mich abholen möge. Dann entferne ich die SIM-Karte aus dem Handy und lasse sie in meine Hosentasche gleiten.
Ich stehe ruckartig von meinem Stuhl auf. Innerlich bin ich völlig am Ende, aber mit aller Kraft halte ich mich aufrecht. Mit einer zutiefst desillusionierten Stimme sage ich: "Ich hole nur meine Tasche, dann bin ich weg!"
Ohne die Reaktionen der anderen abzuwarten eile ich in mein Zimmer und greife mir meine Tasche, dann haste ich wieder die Treppe herunter.

"Handy und Laptop bleiben aber hier!" schleudert mir mein Vater entgegen als er mich am Fuße der Treppe abfängt.
Ich reiche ihm wortlos das Handy und gehe weiter. "Das mit dem Führerschein kannst du dir so natürlich auch abschminken" poltert mein Vater weiter. "Das schaffe ich sicherlich auch noch ohne euch!" fauche ich zurück. Dann aber überrollt mich meine Verzweiflung, meine Wut und meine Trauer wie ein Tsunami und ich kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten.
"Was seid ihr nur für Eltern!" schreie ich sie in gequältem Ton an, "ich bin euch doch scheißegal. Ihr wart nicht nur nicht da, als ich euch gebraucht hätte, nein, ihr müsst mich auch noch fertig machen! Habt ihr mich eigentlich je geliebt oder überhaupt gewollt?"
Mit diesen Worten stürme ich zur Haustür.
Ich höre noch meine Mutter hysterisch meinen Vater ankreischen "Du kannst ihn jetzt doch nicht einfach so gehen lassen!" aber dann bin ich draussen und die Tür knallt hinter mir zu.
Aus den Augenwinkeln sehe ich Toms Wagen mit quietschenden Reifen um die Ecke fahren, ich haste an die Straße, ich will nur weg!
Hinter mir öffnet sich die Haustür und mein Vater brüllt: "Wenn du jetzt gehst Bürschchen, dann bist du..." Ich unterbreche ihn und schrei zurück: "Nicht mehr dein Sohn? Das hast du schon gesagt!"
Toms Wagen bremst vor mir und Tom kommt um den Wagen gerannt, er nimmt mir die Tasche ab und wirft sie auf den Rücksitz, dann läuft er wieder nach vorne. Ich springe auf den Beifahrersitz und ziehe die Tür zu. Aus den Augenwinkel sehe ich wie mein Vater auf den Wagen zusprintet, aber da gibt Tom schon wieder Gas und wir verschwinden um die Ecke.

Wer nach den Sternen greift.... (zensierte Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt