#184 Tom: Die Hoffnung stirbt zuletzt

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Am Sonntag habe ich dann doch versucht Marco anzurufen, aber er ging nicht dran.
Da ich seinen Vater erlebt hatte, halte ich es für wahrscheinlich, dass der ihm sein Handy weggenommen hat.
Vermutlich hat er sogar Hausarrest, so albern das klingt bei einem jungen Mann Mitte 20.
Also habe ich ihm Sonntag Abend auf allen Kanälen mitgeteilt, dass ich am Montag, also heute, für die Weiterarbeit an der Hausarbeit, in die Unibibliothek gehe.
Auch wenn sein Vater ziemlich irre ist, er wird ja wohl kaum verhindern wollen, dass sein Sohn in die Uni geht um weiter an seiner Examensarbeit zu arbeiten.
Und dass ich das mache wird er auch nicht verhindern können.

Um kurz nach acht Uhr fahre ich also in die Uni, auch wenn ich infolge des netten Empfangs durch Herrn Lyrssen senior mit Hämatomen zugepflastert bin.
Auf dem Parkplatz ist allerdings keines der Autos von Marco zu sehen, na ja, er wird vielleicht später kommen.

Zu meiner Überraschung ist es aber ausgerechnet Vergil der mich im Korridor des Juridicums kurz vor der Bibliothek abfängt.
Genaugenommen stürmt er mit wütender Miene auf mich zu, packt mich an der Schulter und presst mich mit dem Rücken an die Wand.
Bevor ich irgendwas sagen kann, donnert er mit zorniger Stimme: "Das ist alles nur deine Schuld!"
"Ist es das nicht immer?" erwidere ich spöttisch und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass die Betonwand in meinem Rücken nicht so wirklich mit den Hämatomen dort harmoniert.
"Wegen dir habe ich Marco verloren, meinen besten Freund!" wirft er mir wütend vor und ich meine einen Hauch von Verzweiflung herauszuholen.
"Hat er dir die Freundschaft gekündigt weil du mir gegenüber so ein Arsch bist" höhne ich, "oder hat sein Alter ihn totgeschlagen weil er sich mit mir abgibt?"
Bei meinen Worten zuckt er zusammen, da hab ich wohl ins Schwarze getroffen.
"Ich glaube nicht, dass es deine Freundschaft mit Marco rettet, wenn du mich jetzt blöde angehst" erkläre ich ihm süffisant.
"Du weißt es nicht..." stellt er erstaunt und mehr an sich selber gerichtet fest.
"Was weiß ich nicht?" erkundige ich mich mißtrauisch.
"Marco er.... er hat sich mit seinen Eltern gestritten... WEGEN DIR!" berichtet er vorwurfsvoll.
"Habe ich mitbekommen" erwidere ich und gehe mich desinteressiert, "inwieweit beeinträchtigt das deine 'Freundschaft' mit ihm?"
"Er ist danach weggefahren und hatte einen Unfall, VERDAMMT!" schreit er.
"Und deswegen machst du mir jetzt Vorwürfe" empöre ich mich, "anstatt dass du mir das gleich erzählst? In welchem Krankenhaus liegt er? Kann ich ihn besuchen?"
"ER IST TOT, MANN!" bricht es nun aus Vergil hervor und dieser Schmerz in seiner Stimme, der ist echt.
Ich brauche einige Momente bis diese Information wirklich bei mir angekommen und verstanden ist.
Dann aber trifft es mich wie ein Schlag: Marco - er ist tot!
Mit tonloser Stimme frage ich ihn: "Ein Unfall? Wie? Wo? Wann?"
"Er ist an der Kurve in der Magnusallee rausgeflogen, mit dem fetten Audi von seinem Dad, dann gegen die Betonmauer gecrasht" berichtet Vergil niedergeschlagen.
"Wie spät war es da?" Ich weiß garnicht genau warum ich das frage, aber irgendwie sagt mir ein Gefühl, dass es wichtig ist.
"Kurz nach 21 Uhr" sagt Vergil mir, "der Knall war in der ganzen Gegend zu hören!"
Aber selbst wenn er wütend war und statt der erlaubten 30 jetzt 50 oder gar 70 gefahren wäre, in dem Auto stirbt man daran doch nicht.
"Wie schnell war er denn?" will ich wissen.
Mißtrauisch und fragend schaut Vergil mich an: "Wieso?
"Du kennst den Audi, so schnell stirbt man damit nicht, oder?" kontere ich.
Er überlegt und seine Mimik verrät mir, dass ich eine entscheidende Frage gestellt habe.
"Ich weiß es nicht" gibt er zu, "aber er war so schnell, dass das Auto sich überschlagen hat, die Mauer eingebrochen ist, es das Fahrzeug zerrissen und ihn gegen einen Baum hinter der Mauer geschleudert hat."
So schnell fährt doch keiner aus Versehen!

"Du denkst wirklich, dass Marco aus Unachtsamkeit so schnell gefahren ist? Auf einer Straße die er kennt?" halte ich ihm vor.
"Wie meinst du das?" fragt Vergil zweifelnd.
"Bist du sicher, dass das ein Unfall war?" insistiere ich.
"Du...." plötzlich wird er blass und fängt an zu stammeln, "du meinst... du meinst er hat... sich selbst... WARUM?"
Vorsichtig schiebe ich ihn von mir weg, dann ziehe ich mir Pullover und T-Shirt über den Kopf und drehe mich um. "Schau auf meinen Rücken!" fordere ich ihn bitter auf, "wenn du wissen willst warum, dann schau!"
Entsetzt stöhnt er auf: "War das... war das.... nein..." "...nicht Marco" beantworte ich seine nicht gestellte Frage, "das war sein Vater. Am Samstag um 19:15 Uhr ungefähr..."
"Zwei Stunden bevor Marco..." fängt Vergil an zu begreifen. Dann fängt er an zu weinen. Der taffe, eiskalte Vergil, er zittert und er weint wie ein Kind und sackt vor mir auf den Boden. Auch meine Beine werden schwach und so kauere ich wenig später neben ihm auf den Fliesen des Korridors. Aber ich kann nicht weinen, obwohl es so weh tut, obwohl ich Verzweiflung spüre, es ist das Entsetzen was alles in mir erstarren lässt.
Alles. Bis auf einen auflodernden Hass.
"Du hast Recht, dass ist meine Schuld" spreche ich leise zu ihm, "sein Vater hat ihn in den Tod getrieben. Wegen mir!"
"Das kannst du nicht wissen" wimmert er neben mir.
"Sein Vater wird ihn so unter Druck gesetzt, dass er keinen Ausweg sah" erkläre ich ihn meine Vermutungen, "und du weißt so gut wie ich, dass Marco seinem Vater gegenüber kein gutes Standing hatte..."

Wer nach den Sternen greift.... (zensierte Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt