#72 Tom: Réveillon

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Das Jahr neigt sich dem Ende entgegen. Wir Vier stehen weißgewandet am Strand und schauen auf den Atlantik hinaus, in die Richtung, in der das neue Jahr schon begonnen hat

Zahlreiche Anrufe meiner Familie aber auch von Marco, Mirko und Meri erreichen mich und wünschen mir 'Frohes Neues Jahr' und vergessen dabei - oder wissen es garnicht - dass ich mich dadurch, dass ich mich in einer weiter westlichen Zeitzone aufhalte, noch im alten Jahr befinde. Ich aber lasse sie in dem Glauben, denn meine Freunde sind eh nicht mehr nüchtern genug für Belehrungen und meine Familie wähnt mich wo auch immer, aber sicherlich nicht in Südamerika.

Aber deswegen stehen wir jetzt nicht am Silvesterabend am Rande des Ozeans. Nein, die drei Brasilianer neben mir wollen nun am Réveillon, wie Silvester hier genannt wird, der Göttin Iemanja ein Opfer bringen.
Die Opfer für die Göttin des Meeres, des Wassers usw. im Candomblé werden auf kleine Boote aus Papier oder Pappe gelegt und ins Meer gesetzt. Man opfert der Göttin die, wie Cicero mir erklärt, als extrem eitel gilt Parfüms, Halsketten, duftende Seife oder Kämme. Außerdem werden weiße Rosen in das Meer geworfen.
Und so sind Ricardo, Cicero und mein Freund nun tatsächlich dabei, weiße Rosen im Wert von 400 Reais ins Meer zu werfen und kleine Boote mit Parfümpröbchen in See stechen zu lassen.
Da ihnen das offensichtlich sehr wichtig ist übernehme ich auch ein paar der Rosen in den Atlantik zu pfeffern. Mein Gefühl sagt mir, dass ich die belustigten Bemerkungen die mir schon auf der Zunge liegen doch besser herunterschlucken soll. Auch wenn mir die Bedeutung des Candomblé für die brasilianische Gesellschaft nicht wirklich bekannt ist, spüre ich instinktiv, dass das ein Bereich ist, den ich Ernst nehmen sollte und mit dem ich mich besser nicht - und sei es auch nur scherzhaft - anlege.
Um das Glück im nächsten Jahr sicherzustellen ist es mit dem schnöden 'Blumen ins Meer werfen' aber nicht getan. Jetzt wird mir aber klar, warum es unbedingt kurze weiße Hosen sein mussten, denn João fordert mich auf meine Sandalen auszuziehen und mit ihm in den Ozean zu kommen bis wir etwa knietief im Wasser stehen.
Hand in Hand werfen wir noch ein paar Rosen ins Wasser. "Jetzt springen wir über sieben Wellen und wünschen uns dabei etwas!" raunt João mir zu.
Und so springe ich über sieben heranrollende Wellen und wünsche mir jedes Mal dasselbe: "Ein glückliches, phantastisches und großartiges Leben mit João bis der Tod uns scheidet."

Wieder zurück an Land schauen wir Cicero und Ricardo beim Wellenhüpfen zu, dann aber wartet schon die nächste Aufgabe.
Réveillon scheint etwas, dass hier ziemlich ernst genommen wird.
"Du musst das Fruchtfleisch von sieben Granatapfelkerne lutschen" fordert mich João auf. "Und die Kerne dann am 6. Januar in dein Portmonee stecken," mischt sich Cicero ein," dann wirst du reich." "Na wenn das so ist, dann haben Ricardo und João das ja ganz dringend nötig" witzele ich, aber sofort trifft mich ein strafender Blick von allen Dreien und Ricardo sagt: "Wir wollen es ja auch bleiben!"

Ok Tom, halte deine Klappe und nimm' die Traditionen ernst, dein Unglaube kommt hier nicht an!

Man feiert hier an Réveillon nicht nur das Ende des Jahres sondern auch den Sommeranfang, ein Gedanke mit dem sich mein auf die Nordhalbkugel orientiertes Hirn trotz der sommerlichen Temperaturen ein wenig schwer tut.

"Hast du eigentlich die Unterhose angezogen die ich dir besorgt habe?" will João wissen.
Warum auch immer ich heute eine rote Unterhose anhaben muss, natürlich habe ich das gemacht.
"Ja" antworte ich achselzuckend.
"Auch die Farbe der Unterwäsche hat einen Einfluss auf das neue Jahr" erteilt mir Cicero eine weitere Lehreinheit im Aberglauben.
"Und was bewirkt Rot?" erkundige ich mich.
"Rot zieht die Leidenschaft an!" sagt mir Ricardo grinsend.
Soll mir das jetzt ein Wink mit dem Zaunpfahl sein, dass ich nicht leidenschaftlich genug bin?
Mit den Worten "Welche Farbe hast du denn?" greife ich an Joãos Hosenbund und versuche einen Blick auf seine Undies zu werfen.
Rosa.
"Und rosa?" frage ich und Cicero kichert: "Das bringt Liebe". Ich will jetzt mal hoffen, dass es darum geht, dass meine Liebe ihm erhalten bleibt.

Wer nach den Sternen greift.... (zensierte Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt