Kapitel 114

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Sleeping At Last - Already Gone

Seine Augen sind zu. Er wirkt so friedlich. Fast, als würde er nur schlafen. Fast, als wären die Geräte nicht da, die ihm das Atmen abnehmen. Fast, als wären seine schönen Hände nicht bedeckt und befleckt von Blutergüssen für die ganzen Untersuchungen, die er gar nicht mitbekommt. Er hat das nicht verdient. Er hat kein einziges seiner Schicksalsschläge verdient. Er verdient das Beste dieser Welt und wenn ich dafür leiden und bluten müsste. Und doch wirkt er selbst jetzt in einem Zustand der Bewusstlosigkeit so beruhigt, so zufrieden. Seine Lider verschließen mir den Anblick seiner so klaren, grünen Augen, die mehr Trauer als Freude in sich getragen haben. Unter seinen Augen sind einige winzige Petechien, die durch den Zwischenfall entstanden sind. Ardans Körper ist schwach. Er muss heilen. Immer, wenn ich daran denken muss, verschwimmt meine Sicht. Es tut mir weh. So weh, ihn so sehen zu müssen. Es tut mir im Herzen weh, dass er vor Glück geweint hat, endlich ein Spenderherz zu kriegen und dann im Sterben lag. Ich verstehe nicht, wie ungerecht diese Welt ist. Wieso er? Wieso muss es ausgerechnet ihm passieren? Sein Blut musste wieder gereinigt werden. Er hatte innere Blutungen. Als Mama reinkam und seine Reflexe getestet hat, wurde mir bei dem Anblick seiner sonst so schönen Augen schlecht. Große Blutergüsse umrahmen das Grün seiner Augen. Ardan, mein Herzensdieb. Ich nehme seine Hand in meine, drücke unzählige Küsse drauf, in der Hoffnung, sie fördern den Heilungsvorgang. Es kann länger als eine Woche dauern und ich bin schon tausend Tode gestorben, als die zwei Tage rum waren, um ihn endlich besuchen zu können.

Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich kann nur warten, aber ich habe Angst. Angst, dass es noch länger dauert. Angst, dass es noch schlimmer wird. Was ist, wenn er nicht erwacht? Was ist, wenn das Koma dem Herzen nicht guttut? Ist das möglich? Was ist, wenn durch das Koma nicht erkannt wird, wenn etwas mit dem Herzen nicht stimmt? Er wird untersucht. Mama lässt jede Stunde jemanden nach ihm schauen, wenn sie selbst im Moment nicht kann, aber ich habe trotzdem unheimliche Angst um ihn. Ihn anzusehen, macht es nur noch schlimmer. Er ist doch mein Herzensdieb. Er hat mein Herz. Er hat meine Seele und jede einzelne meiner Tränen. Mein Gesicht verzieht sich unter seiner Hand weinend. Er weiß nichts. Er weiß nicht, dass ich hier gerade wieder zu weinen beginne. Er weiß nicht, dass die grünen Augen seiner Eltern rot vor Trauer sind. Er würde nicht wollen, dass wir trauern, aber ich bin mir sicher, dass sich ein kleiner Teil gestärkt fühlen würde, wenn er wüsste, dass seine Freunde trauern und sich um ihn sorgen werden. Aber es ist vorbei. Du musst dich nie wieder mehr vor dem Tod fürchten, Ardan. Du hast es geschafft. Du musst nur noch erwachen. Die Frage ist nur: wann? Ich komme mit dieser Überforderung kaum klar. Meine Brust tut weh. Es sticht immer wieder extrem. So sehr, dass ich schon zusammenzucke. Ich kann mich nur beruhigen, wenn Mama auf mich einredet und mir verspricht, dass alles wieder gut wird, aber wenn ich Ardan so sehe, steigen die größten Ängste in mir auf. Ich will doch nur meinen Herzensdieb zurück. Mehr nicht.

Elif tritt aus dem Badezimmer. In ihrer Hand ist der Waschlappen und die zwei Schüsseln mit Wasser und mit Seifenwasser. Sie tut mir am meisten leid. Sie muss zusehen, wie ihr einziger Sohn im Koma liegt nach all den Versuchen, ein Kind zu zeugen. Nach all den Jahren, in denen sie zusehen musste, wie sich der Zustand ihres einzigen Kindes verschlechterte. Sie stellt alles auf dem desinfizierten Tisch ab, desinfiziert sich ihre Hände und zieht sich dann Handschuhe an. Ich krempele die Ärmel seines T-Shirts über seine Schultern, streichele zärtlich über seinen Bizeps. Wie sehr sich mein Herz eine Regung dadurch erhofft. Ein kleines Zucken, eine sachte Gänsehaut, aber es passiert nichts. Sie darf bei ihm bleiben. Ihr wurde ein Bett zugestellt für das Privatzimmer. Cihan kümmert sich um alle Dokumente für die Gerichtsverhandlung mit diesem Assistenzarzt. Es hat schon die Runde in ganz Hamburg gemacht. Die Nachrichten berichten vom anonymisierten 19-Jährigen, der durch das unprofessionelle Handeln von R. Buckard in Lebensgefahr gebracht wurde. Die Nachrichten zerreißen sich das Maul um diesen Wichser und werfen ihm vor, dass er aufgrund seiner politischen Einstellung sogar dementsprechend gehandelt hätte. Mir ist es recht. Ich will, dass er leidet. Er ist schuld daran. Er ist schuld daran, dass eine Mutter fast verstummt ist und innerhalb zwei Tagen kaum Nahrung und Schlaf bekommen hat. Er ist schuld daran, dass sich ein Vater wieder mit der ganzen Krankheitsgeschichte seines Sohns auseinandersetzen muss. Er ist schuld daran, dass beide sich mental darauf vorbereiten müssen, mit ihm in einem Gerichtssaal zu stehen und erdulden müssen, wie er von einem Anwalt in seiner Tat verteidigt wird.

HerzensdiebWo Geschichten leben. Entdecke jetzt