Kapitel 99

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Halsey - Control

Der Montag war einfach nur beschissen. Schulisch war er erfolgreich, aber Ardan war nicht da, hat auf keine einzige Nachricht und auf keinen einzigen Anruf reagiert und auch seine Mutter hält dicht. Ich weiß nur, dass er gestern in der Klinik war, weil das das Einzige war, was mir seine Mutter erzählt hat. Von Mama kriege ich immer mehr das Gefühl, dass sie mich ignoriert, auch wenn sie gestern überwiegend gearbeitet hat und um 21:00 Uhr mit uns allen im Wohnzimmer saß. Sie hang überwiegend an Aiman. Die Stimmung zwischen ihr und Baba war genauso wie am Sonntag. Ich hatte Angst, dass Baba etwas gegen Aiman sagt, aber er blieb still. Immerhin hat er mir Aufmerksamkeit geschenkt und ist mit mir ein wenig auf dem Hof herumgefahren, um meine Parkkünste zu verbessern. Ich will gar nicht in die Prüfung, weil ich so unkonzentriert bin. Jetzt frage ich mich, wie ich die Tage so gut im Unterricht mitarbeiten konnte, wenn ich an Mama, Baba, Aiman, Ardan, Didem und Ramzi denken musste? Am Dienstag sehe ich Ardan sowieso nur, wenn ich Glück habe und er vielleicht mal früher kommt, aber es war ziemlich klar, dass er sich nach dem Samstag am Dienstag Zeit lässt, um an unsere Schule zu kommen, um mich bloß nicht zu sehen. Es stört mich unfassbar, dass er mich meidet. Ich habe ihm nichts getan! Ich hätte am Dienstag am liebsten geschrien, wenn ich ihn gesehen hätte.

Am Mittwoch war er auch nicht in der Schule, Donnerstag konnte ich ihn nur in Spanisch sehen und da war er still und ob er heute kommt, weiß ich verdammt noch mal nicht. Kommt er zum Sport? Was hat der Arzt in der Klinik gesagt? Eigentlich habe ich mich damit abgefunden, Ardan selten in der Schule zu sehen, weil er viele Fächer an kooperierenden Schulen hat, aber diese Woche ging es gar nicht. Ich habe mich jede Stunde darüber aufgeregt, dass unsere Schule nicht all diese Kurse anbietet, die Ardan belegt. Ich bin gestresst. Ich bin verdammt gestresst, in meiner Brust sticht es deshalb und genau das sorgt für noch mehr Stress. Ich bin so gestresst und schlecht gelaunt, dass ich nicht einmal mehr mit Mama reden will. Soll sie doch mit Aiman sein! Tief im Inneren weiß ich, dass ich nicht so ignorant denken soll, aber andererseits sollte sie als Mutter für all ihre Kinder da sein. Ich will nach Hause, statt diese drei Stunden unnötig in der Sporthalle zu verbringen. Wir werden sowieso nur eine Stunde wirklich Sport treiben und die restlichen zwei Stunden das machen, was wir wollen. Unser Sportlehrer betitelt es immer als Einzelphasen, also als Synonym fürs Nichtsmachen. Gerade sitzen wir in der Mensa, wo Ramzi sich über Dilans blasse Haut lustig macht. Ich würde mitlachen, wenn ich gut gelaunt wäre.

"Was ist los mit dir?", murmelt Yasmin, die mir sanft in die Seite stößt. Träge, weil ich keine Motivation habe, zucke ich mit meinen Schultern. Ich kann ihr nicht von Ardans Problemen erzählen. "Es läuft gerade echt beschissen", murmele ich zurück. "Willst du heute reden? Soll ich zu dir?" "Wenn, dann will ich zu dir." Ich habe echt keine Lust zu Hause zu sein und zuzusehen, wie Mama Aiman ganz plötzlich bevorzugt. "Immer noch Stress mit deiner Mutter?" Ich schwinge den Kopf leicht hin und her. "Irgendwie. Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts", grummele ich am Ende frustriert. Und es stimmt: ich weiß wirklich nichts. Ich weiß nichts, was mir helfen könnte, die aktuelle Lage zu verstehen. Ich weiß nicht, was mit Ardan los ist. Ich weiß nicht, wieso Mama und Aiman plötzlich immer weg sind und wieso Baba so wütend auf ihn ist. Wenigstens hat Didem sich die Tage zurückgehalten und nur verstohlen geguckt. Wo bleibt Ardan? Der Physikunterricht ist schon längst vorbei. Immer wieder schaue ich auf den Eingang der Mensa, in der Hoffnung, dass er kommt, aber nein, er lässt sich wie immer in dieser Woche Zeit. Was macht er denn, dass er so lange braucht? Mir ist nicht aufgefallen, dass mein Bein wippt. Erst jetzt bemerke ich, dass Yasmin mich beobachtet. Ich frage mich wirklich, wie es in anderen Beziehungen ist. Weshalb streiten sich Dilan und Adam wohl? Wendet sich Ardan an Ramzi, wenn er nicht mit mir reden will?

Das Gongen ist wie eine Befreiung für mich. Ardan muss jetzt kommen! Ich will mit ihm reden, denn dieses ständige Schweigen bringt niemanden etwas. Wir laufen durch den Notausgang zur Sporthalle, wo wir erstmal auf die Sportlehrer warten müssen. Und wieder schaue ich mich um, in der Hoffnung, auf Ardan zu treffen, der vom Parkplatz runterläuft. Wo bleibt er? Gestresst ud ungeduldig schnalze ich mit der Zunge, als ich beschließe, ihm zu schreiben. Er müsste eigentlich schnell antworten, aber eigentlich würde er sich auch nicht so verhalten, deshalb brauche ich auch gar nicht zu hoffen, dass er antwortet. Ihm zu schreiben war eine pure Energieverschwendung. Ich hätte Ardan niemals so eingeschätzt. Er ist doch sonst immer so rational. Wieso benimmt er sich dann jetzt so? Das weckt eine Wut in mir, die mich anspornt, ihn anzuschreien. Ich schnaube genervt, kriege gar nicht mit, worüber alle lachen, obwohl ich auch mitlachen wollen würde, wenn ich nicht so schlecht gelaunt wäre. Plötzlich stößt mir Yasmin in die Seite und zeigt unauffällig nach links, wo Ardan kommt. Mein Herz schlägt augenblicklich schneller und die Kälte schmilzt quasi bei meiner ansteigenden Temperatur hin. Er sieht nicht gut aus und schon mindert sich meine Wut. Ihm geht es nicht gut. Er sieht schwach und blass aus. Seine grünen Augen scheinen zwar immer noch so stark, aber sie wirken dennoch matt. Meine Schultern, die vor Stress gerade noch angespannt waren, sinken nun.

HerzensdiebWo Geschichten leben. Entdecke jetzt