Kapitel 83

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Sam Smith - Fire On Fire

Es ist 00:00 Uhr, Freitag, der 29. September. Es ist Ardans Geburtstag. Ich habe einen langen Text für ihn vorbereitet und abgeschickt. Wie er darauf reagieren wird und ob er reagieren wird, weiß ich nicht. Am Montag war er distanziert zu mir - aber damit musste ich klarkommen, auch wenn es wehgetan hat. Vom Dienstag bis gestern war er nicht da. Keiner wusste weshalb, aber er kam nicht. Zum Glück hat er die Klausurphase hinter sich, sodass er sich keine Sorgen machen muss. Aber weshalb hat er gefehlt? Ich wollte ihn nicht fragen, weil ich mir noch nicht sicher dabei bin. Aber diesen Text musste ich ihm einfach schreiben. Es ist 00:01 Uhr und er hat die Nachricht immer noch nicht gelesen. In der Stufengruppe gratuliert man ihm und auch in der Cliquengruppe. Auf Snapchat hat vor allem Ramzi Fotos und Video von oder mit Ardan gepostet. Wird er zur Schule kommen? Er will mir doch heute das erzählen, was er geheim gehalten hat. Was ist es? Wie werde ich reagieren? Werde ich verstehen können, wieso er es geheim gehalten hat? Am liebsten würde ich ihn fordern, es mir jetzt zu sagen, aber das will ich nicht tun - er würde es sowieso nicht tun. Hat er diese Woche viel über uns nachgedacht? Will er eine Pause? Was macht er, dass er nicht auf die Nachrichten reagiert? Ich spiele ungeduldig an seinem Lederarmband herum. Mein Handy liegt vor meinen Beinen, die ich im Schneidersitz an mich gezogen habe.

'Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich damit beginnen soll:

Es ist dein 19. Geburtstag, den du hoffentlich mit viel Freude und Glück feiern wirst - unter anderem mit uns. Was auch immer dich beschäftigt, das soll dich an diesem Tag nicht belasten. Ich weiß nicht, wie du auf diese Nachricht reagieren wirst, weil ich dir Unrecht getan habe, aber ich habe einen kleinen Funken an Hoffnung, dass du dich über diese Geste freuen wirst und dass zumindest dein ausgeprägtes, linkes Grübchen das eine oder andere Mal hervorstechen wird - wenn dein rechtes hervorsticht, heißt es, dass du dich sehr darüber freust, weil es nicht so ausgeprägt ist. Wie es mit uns weitergehen wird, weiß ich nicht. Momentan bestimmst du mehr als ich und das ist okay. Ich habe uns da in etwas reingeritten, was uns in diese Situation gebracht hat und muss mit den Konsequenzen leben. Ich hoffe dennoch, dass ich stets die kleine Blume bleibe, die deinem Schutz angehört, sowie du meinem Schutz angehörst. Das hört sich für dich jetzt sicherlich widersprüchlich an, weil ich mich letzte Woche ja quasi gegen dich gestellt habe. Was der Mensch in der Schale seiner Irrationalität für Gewalten auslösen kann. Ich will mein Verhalten nicht rechtfertigen ... noch nicht zumindest. Ich würde eines Tages versuchen alles zu klären, ruhig und entspannt, aber das kann warten, solange du willst - du würdest statt willst "magst" benutzen. Dich machen viele Dinge aus, die dich zur Sonnenblume auf dem Weizenfeld machen. Angefangen bei deiner Gutmütigkeit trotz deiner schweren Vergangenheit bis hin zu deiner Ruhe und Geduld. Deine Augen erinnern mich an das Grün von Murmeln. Ich mag Murmeln. Ich mag das klare, grüne Glas. Das mag ich auch an deinen Augen: sie sind so glänzend und klar.

Dass ich nicht weiß, wie du auf diese Nachricht reagieren wirst, verunsichert mich beim Schreiben, aber mein Herz sagt mir, dass du dich freuen wirst und es nicht spöttisch und verurteilend betrachten wirst, denn du gibst doch so gut wie alles und jedem eine Chance, bevor du urteilen willst. Ich kann mir dein zartes Lächeln dabei vorstellen, weil du dich über die ganzen Gratulationen freust. Das ist doch ein Stück, das die fehlende Akzeptanz schließt, oder? Ich hoffe es. Ich hoffe so vieles für dich, obwohl ich so wenig über dich weiß. Unter anderem hoffe ich, dass du mir verzeihen wirst. Du musst und sollst es nicht sofort machen, aber es würde mein Herz entlasten, wenn du mir nicht mehr böse bist. Von mir aus kannst du mich noch zwei weitere Wochen warten lassen. So hast du denselben Zeitraum, wie ich ihn für die Distanzierung genutzt habe. Irren ist menschlich und Vergeben göttlich - so Alexander Pope. Vielleicht kennst du ihn oder nicht, aber dann kannst du ihn in dein kleines Büchlein verewigen. Vielleicht zeichnest du dann noch zwei Herzchen hin, die sich verbinden oder so. Es war ein großer Fehler, Didem zu glauben und ich kann es im Nachhinein selber nicht verstehen. Wie konnte ich nur so dämlich sein? Ich war innerlich einfach so aufgebraust, aber in diesem Text soll es sich um dich drehen. Auch du bringst meine Gefühle und Gedanken zum Aufbrausen und das schon seit unserem ersten Schultag, weil du da so unfreundlich zu mir warst. Dass ich dir im Nachhinein das Gefühl von Unsicherheit vermittelt habe, tut mir leid. Ich war zu stur.

HerzensdiebWo Geschichten leben. Entdecke jetzt