60| Ein guter Mensch

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Amnesia
5SOS

Lancelot

Anterograde Amnesie. Ich hatte das junge Mädchen gebeten es zu googeln, da ich bei der Erklärung der Ärzte kaum zugehört hatte. Sie hatte mir die Definition vorgelesen, doch ich weiß nicht, ob ich es richtig verstanden habe. Vielleicht bin ich ja nicht der hellste?

Ich würde es ja nicht wissen.

Jedoch schien ich dafür ein sehr beliebter Mensch zu sein. So viele Gesichter ohne Namen hatten heute behauptet meine Familie zu sein, dass ich mich fragte, ob meine Eltern auch noch andere Hobbies hatten. Mein Kopf rollte zur Seite. Das junge Mädchen hatte sich in einen der Stühle neben mich gesetzt, tat so, als würde sie in einer Zeitschrift blättern, doch ich spürte ihren brennenden Blick. »Darcy« raunte ich und sie zuckte kaum merklich zusammen. Darcy - so hatte sie sich jedenfalls vorgestellt.

Ich wusste, dass sie hoffte, ich würde mich erinnern, doch da war nur ihr Name. Sie legte ihre Zeitschrift zur Seite und beugte sich zu mir vor, begegnete meinem Blick, »Bin ich hässlich?« Ihre Stirn legte sich in Falten, »Was?«
»Naja, du starrst schon seit einer guten Stunde auf mein Gesicht. Und langsam befürchte ich, dass ich eine Abscheulichkeit sein muss.« Ein Glucksen entkam ihr, dass ich ihr nicht wirklich abkaufte. »Kannst du... kannst du dich nicht daran erinnern, wie du aussiehst?« Ich sah an mir hinab. Meine Arme waren überzogen von Tattoos und ich sah die Spitzen von blonden Haaren. Immer wenn ich versuchte, mich an mein Gesicht zu erinnern, schien das Bild in meinem Kopf zu verschwimmen. Es war, als würde ich es wissen, aber im gleichen Moment auch nicht. Als hätte jemand Wasser darüber geschüttet.

»Im Moment weiß ich nichtmal, wie viel Kohle ich auf dem Konto hab, Sweetheart. Mein Gesicht ist mein geringstes Problem.« Schnaubend zog sie ihr Handy hervor, öffnete die Kamera und reichte mir das Gerät. Ein junger Mann sah mir entgegen, der absolut zu nah mit dem Asphalt gekuschelt hatte. Vorsichtig hob ich meine Hand, fuhr die Schrammen nach. Ich war hübsch, wenn man das hier außer acht ließ. »Man.« murmelte ich und strich mir über den Nasenrücken. »Gefällst du dir?« raunte Darcy und lehnte sich hinüber, so dass sie ebenfalls auf dem Dispaly des Handys erschien. Zusammen blickten wir in die Kamera. »Mit so einem Gesicht, würde ich niemals die Klappe halten.«
»Keine Sorge,« kicherte sie, »Das tust du nicht.«

Ich spähte zu ihr hinüber. Darcy. Darcy Moreau. Meine Nichte. Ich wiederholte ihren Namen in meinem Kopf und versuchte den Nebel zu lichten. Ich wusste, dass da etwas war. Ich wusste es. Doch es schien Welten entfernt. »Erzähl es mir,« flüsterte ich. Überrascht sah sie zu mir auf, nachdem sie ihr Handy wieder verstaut hatte. »Was genau?«
»Alles

Wer ich bin. Wer sie ist. Wer ich für sie bin. Und wer sie für mich ist. Wer jeder ist. Was alles ist.

Darcy presste die Lippen aufeinander, »Da gibt es so viel zu erzählen. Ich ... ich weiß nicht, wo ich beginnen soll.« Überfordert ließ sie sich zurück in den Stuhl sinken. »Das ist gut. Das heißt, ich bin nicht langweilig,« grinste ich. Darcy schmunzelte, »Nein, dass ganz sicher nicht. Du bist ... bizarr.« Verwirrt verzog ich das Gesicht, »Das klingt nicht sehr nett.«
»Naja, du verhältst dich nie so, wie man es erwarten würde und im selben Moment verhält du dich genauso wie man es von dir erwarten würde. Du bist charmant, sarkastisch und loyal. Du bist direkt. Du sagt immer was du denkst, auch wenn du es nicht solltest. Du bist laut, aber auch still. Du bist offen aber auch nichtssagenden. Du bist eben ...«
»Bizarr.« beendete ich.

Zittrig atmete ich ein, mied ihren Blick, »Bin ich ... ein guter Mensch?« Irgndwas in mir, war sich dessen nicht sicher. Als wäre dort etwas dunkles. Darcy lächelte breit, »Der Beste, den ich kenne.« Eine Weile sahen wir uns schweigend an, bevor ich seufzend wieder zu meinen Beinen hinab sah. Ein guter Mensch, also. Das war doch schon etwas.

»Die Männer die vorhin hier waren? Gwaine und Percival?«, begann ich ein neues Thema. »Deine Brüder?« half sie mir auf die Sprünge. »Gibt es einen Grund warum wir so bescheuerte Namen haben?« Darcy prustete, »Sag das auf gar keinen Fall Grandma!« Ich nickte. Ich würde es nicht der älteren Dame mit dem ausgeprägten Modestil sagen. Irgendwas in mir wusste bereits, dass das nicht gut enden würde.

»Was ist mit dem anderen Mann? Der heute Morgen hier war?« Niemand hatte mir bis jetzt seinen Namen gesagt. Und an der Art wie Gwaine ihn aus dem Zimmer geschmissen hatte, schien er nicht gerade beleibt in dieser Familie zu sein. »Ging es ihm gut?« Er wirkte ziemlich durch den Wind. Darcy sah zur Tür, als würde sie ihn dort jeden Moment erwarten. »Du meinst Dean?«
»Dean,« wiederholte ich, ließ meinen Kopf zurück in die Kissen sinken.

»Wir sind ... Freunde?« schlussfolgerte ich und sah wieder zu ihr nach Rechts. Darcy schwieg, knetete ihre Hände. »Darcy?« Da war etwas. Ich erkannte es an der Art, wie sie zögerte. »Ihr seid Nachbarn.« raunte sie schließlich. »Nachbarn?« War das alles? »Er ist letztes Jahr neben dir eingezogen. Seitdem wart ihr unzertrennlich. Er ... er ist dein bester Freund.« Ich nickte verstehend. Das klang schon wahrscheinlicher. »Ich dachte, du wärst meine beste Freundin?« Überrascht sah sie auf und ich überdachte meine Worte. »Nicht?« Waren wir vielleicht doch nicht so eng? Dabei fühlte sich an, als... Schnell nickte sie, »Yeah, aber wir zählen nicht. Wir ... wir sind Familie.« Familie. Ein schönes Wort.

»Da ist noch etwas, nicht wahr?« raunte ich. Seufzend fuhr sie sich ihre Haare nach hinten. Ich hatte ins Schwarze getroffen. »Dean war der Fahrer.«
»Beim Unfall.« folgerte ich. Man hatte mir gesagt, dass ich in einem Unfall beteiligt war. Darcy nickte. »Wohin sind wir gefahren?« Sie zuckte mit den Schultern. »Warum ist Gwaine sauer auf ihn?« Wieder schien sie die Antwort nicht zu wissen. »Ich denke Gwaine ist sauer, weil du verletzt wurdest.«
»Auf Dean?« Sie nickte. »Aber wieso? Es war doch ein Unfall?« Sie schwieg.

Ich wollte weitere Dinge über den Unfall fragen, doch fürs erste, ließ ich es sein. Stattdessen fragte ich sie über andere Dinge aus. Ich wusste nicht, wie lange sie mir über mich erzählte, doch irgendwann erspähte ich die pinken Wolken der Abenddämmerung durch das Fenster. Ich lernte viele Dinge von mir selbst, auch wenn ich ihr viele Dinge nicht abkaufte. Zum Beispiel bezweifelte ich, dass ich jemals irgendwo eingebrochen bin.

Ich wollte noch etwas fragen, als sich erneut sich die Tür zu meinem Zimmer öffnete. Es war einer meiner Brüder. Ich kniff die Augen zusammen musterte ihn. Hellbraune längere Haare, Brille: »Percival.« schlussfolgerte ich und ließ ihn damit innehalten. Sein Blick huschte über mich, versuchte einzuschätzen, ob ich mich erinnerte oder nur seinen Namen behalten konnte, »Wie gehts dir, Lance?« Ich legte den Kopf schief, »Ich würde sagen, ging mir nie besser, aber ich glaube nicht, dass man mir das abkauft.« Percy zuckte mit den Schultern, »Du hast mich schon von viel absurderen Dingen überzeugt.«
»Kann ich dich auch davon überzeugen, diese Krawatte loszuwerden?« Er sah hinab auf den braunen Stoff, der um seinen Hals hing. »Die siehst aus, als hättest du sie mit einem Misthaufen gemachted.« Ein Lächeln trat auf seine Lippen, so dass ich mich fragte, ob er realisiere, dass ich ihn gerade beleidigt hatte.

»Können wir für dich die Nacht allein lassen?« fragte er mich dann, als wäre ich ein Kleinkind. Langsam musste ich feststellen, dass ich wohl der hellste von ihnen sein musste. »Was willst du denn hier noch tun? Mir die Hand halten, bist ich eingeschlafen bin?« raunte ich und vergrub meinen Kopf in meinen Kissen. Vielleicht waren es die Medikamente, oder die vielen Fragen, aber ich war schläfrig. »Komm schon, Darce. Wir wollen los.« Zögerlich erhob sie sich, sah zu mir hinab. Träge winkte ich zu ihr hoch, »Mach's gut, Teufelchen.«

Ihre Augen weiteten sich geschockt, doch bevor ich ihr Gesicht entschlüsseln konnte, hatte mich der Schlaf bereits gepackt.

Not your Friend! [BxB]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt