Immer.

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19. Februar 2036
p.o.v. Zayn

Immer wieder blickte ich auf die Uhr. Der Zeiger schien sich über mich lustig zu machen, denn er bewegte sich in Zeitlupe. Fünf vor zwölf, zwei vor zwölf, Mitternacht. Ich lauschte gespannt, aber es tat sich nichts. Das Haus blieb ruhig.

Ich fluchte leise. Ich hatte wirklich gehofft, meine Botschaft wäre angekommen. Ich warf einen letzten Blick auf die Wanduhr, bevor ich mich von der Haustür entfernte und den Gang entlang Richtung Wohnzimmer lief. Genauso wie der Rest vom Haus war auch das Wohnzimmer dunkel und sah unbewohnt aus.

Liam hatte, nachdem wir gestern im Human Logic waren, spontan seine Taschen gepackt und war mit den Worten „Ich brauche gerade einfach etwas Zeit für mich" aus der Tür verschwunden. Es störte mich, dass Liam einfach so abhaute. Natürlich verstand ich, dass er Zeit für sich brauchte, aber es tat weh, dass er mir anscheinend nicht genug vertraute, um bei mir zu bleiben und sich von mir trösten zu lassen.

Manchmal wünschte ich, Liam und ich wären etwas mehr wie Louis und Harry. Harry hatte, seitdem Freddie weg war, keine Sekunde Louis' Seite verlassen. Und das, obwohl noch so viele Wörter zwischen den beiden ungesprochen waren und noch so viele Gefühle nicht geklärt wurden. Es war lächerlich. Ich war 43 Jahre alt und trotzdem war ich eifersüchtig auf meine besten Freunde.

Ich atmete tief aus und rieb meine müden Augen. Wie konnte mein Leben so schnell so verkorkst werden?

„Du siehst aus, als bräuchtest du einen Schnaps." Augen landeten auf meinem Gesicht. "Einen starken." Ich stieß einen stummen Schrei aus. Da saß er, mitten im Dunkeln in meinem Wohnzimmersessel. Wie war er hier reingekommen, ohne dass mein Sicherheitssystem es bemerkt hatte? Von wegen "das Beste auf dem Markt".

„Kennedy Francis West." Der Junge verzog sein Gesicht. Sein Missmut darüber, dass ich seinen ganzen Namen kannte, erfreute mich sehr. „Anscheinend hat da jemand seine Hausaufgaben gemacht." Ich lächelte leicht. Und wie ich meine Hausaufgaben gemacht hatte. Wir hatten gestern kaum das Human Logic verlassen, da hatte ich schon unzählige Anrufe getätigt, um alles über ihn zu erfahren. Ehrlich gesagt war es deutlich schwerer als erwartet gewesen, etwas über Kenny herauszufinden.

Kennedy Francis West, geboren am 25. April 2015 als Sohn von Francis und Laureen West. Hat eine ältere Schwester namens Lauretta Katharina West. Aufgewachsen in einem sehr guten Teil von London. Francis sowie Laureen waren angesehene Anwälte, der Junge saß praktisch auf Geld. Erklärte, warum er auf derselben Privatschule war wie Freddie und Bear, und das, obwohl die Eltern bereits 2026 durch einen Autounfall ums Leben kamen und Kenny ins Heim kam.

Ich war ehrlich schockiert gewesen, dass keiner der Verwandten sich bereit erklärt hatte, die Kinder aufzunehmen. So wenig ich Kenny auch mochte, mein Herz schmerzte für den elfjährigen Jungen, der seine Eltern verloren hatte. Aber eine schwere Vergangenheit ist trotzdem kein Grund, ein beschissener Mensch zu werden.

Kenny war das, was man ein typisches Problemkind nannte: respektlos, stur, wild, schwer kontrollierbar. Er war extrem ausfällig, und das nicht im positiven Sinne. Ab dem Moment, an dem er 18 wurde, verschwand er von der Bildfläche. Es gibt keinerlei Aufzeichnungen über seinen Wohnort, Arbeit oder sonstiges.

„Hast du vor, mir heute auch noch zu antworten, oder macht es dir einfach nur Spaß, mich sinnlos zu einem Treffen zu erpressen?" „Erpressen ist etwas hart, findest du nicht?", war das erste, was ich zu ihm sagte. Er hob eine Augenbraue. Okay, vielleicht traf "erpressen" es doch ganz gut, aber naja, was soll ich sagen? Ich hatte etwas, was Kenny wollte, und er hatte Infos, die ich haben wollte. „Nennen wir es lieber Tauschgeschäft."

Er zuckte mit den Schultern. „Ist mir eigentlich scheißegal, wie wir es nennen, aber komm zum Punkt, ich habe nicht die ganze Nacht Zeit." Ich setzte mich auf den Sessel gegenüber und überkreuzte meine Beine. „Ich will nur reden." Kenny lachte trocken. „Ich bin in einem Kaffeekränzchen gelandet, spitze." Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. „Hey, ich habe jedes Recht, Fragen zu stellen. Es betrifft schließlich meine Tochter." Er schüttelte den Kopf.

„Eigentlich geht dich Nehas Leben einen Scheiß an, aber sie ist mir wichtig und ich weiß, dass du ihr wichtig bist. Also frag." „Was genau ist das Human Logic? Die Zeitungen bezeichnen es als Gang." Kenny nickte. „Wir nennen es Gang, aber das ist im Grunde nur eine andere Bezeichnung für Club. Wir kaufen Drogen und verkaufen sie teurer weiter. Wir sind sozusagen ein Drittmann. Aber nur, weil man Teil vom Human Logic ist, heißt das noch lange nicht, dass man auch Drogen verticken muss. Das alles ist freiwillig. Free und ich haben das Human Logic als Rückzugsort gegründet, ein Ort, an dem man sicher ist und einfach frei sein kann. Ohne Eltern, ganz ohne Verpflichtung. Das Motto vom Human Logic ist: „Nur wer bereit ist zusammenzufallen, kann zusammenstehen." Die Mitglieder vom Human Logic sind eine Familie. Jeder ist bereit, für einen anderen durchs Feuer zu gehen."

Der logische Teil meines Gehirns wusste, dass das Human Logic trotz allem eine Gang war, die in illegale Geschäfte verwickelt war. Aber der andere Teil beneidete das Konzept dahinter. „Und Neha - wie viel weißt du über ihr Alkoholproblem?" Kenny biss sich auf seiner Lippe herum. „Das ist Nehas Sache." „Kennedy." Meine Stimme war bestimmt und der Junge war vieles, aber nicht dumm. Er wusste genau, was ich meinte. Gib mir die Infos, die ich will, und du bekommst die, die du brauchst.

„Fuck. Wehe, du verrätst Neha, dass wir jemals darüber gesprochen haben." Ich lächelte. „Natürlich nicht." „Erstmal, ich erinnere mich selbst nicht mehr besonders gut an die Zeit. Wir alle waren so abgefuckt und waren öfter drauf als bei klarem Verstand. Wir alle sind anders mit unseren Problemen umgegangen. Free und ich waren praktisch 24/7 auf irgendwelchen Trips, Bear hat grundlos Kämpfe angefangen und sich geprügelt und Neha - mein süßes Neachen - hat nach der Flasche gegriffen. Ihr Ausweg war der Alkohol. Irgendwann haben selbst wir gecheckt, dass Nehas Alkoholkonsum außer Kontrolle geraten war. Es gibt so eine Faustregel, die sagt, wenn selbst Crackys sehen, dass du ein Problem hast, dann hast du verfickt nochmal ein Problem. Neha war das aber immer egal. Sie hat nicht mehr auf uns gehört. Es war ihr scheißegal. Sie hat den Alkohol gebraucht und ist immer tiefer reingerutscht. Ich will damit nicht sagen, dass Free's oder mein eigener Drogenkonsum gesund war, aber wir waren nicht süchtig. Wir mussten nicht unbedingt kiffen oder Pillen schlucken. Klar, wir taten es und das Leben war scheiße, wenn wir nicht drauf waren, aber es ließ sich aushalten. Neha an der anderen Hand hielt es nicht mehr aus. Sie hatte extreme Entzugserscheinungen, wenn sie wenige Stunden nicht getrunken hatte." Er verstummte.

„Sprich weiter", verlangte ich. Er schüttelte den Kopf. „Was ist mit ihrer Alkoholvergiftung?!" Kennys Gesicht wurde hart. „Was soll schon damit sein? Sie hat es übertrieben, ihr Körper hat aufgegeben, lag ohnmächtig in irgendeiner Grube. Nur Gott weiß, wie lange oder was in der Zeit passiert ist, an die sie sich nicht mehr erinnert. Fuck, das waren die schlimmsten Stunden meines Lebens, nicht zu wissen, ob sie es schaffen würde. Nicht mal meinem größten Feind wünsche ich so eine Erfahrung."

Sein Blick wanderte durch den Raum, bevor er auf mir liegen blieb. „Obwohl, du hättest die Erfahrung verdient, vielleicht würdest du sie dann endlich schätzen lernen." Mein Körper fing an zu brodeln. Was fiel diesem Dreckskerl eigentlich ein, so mit mir zu reden und mir sowas zu wünschen? Am liebsten hätte ich ihm noch eine verpasst, aber die Stimme der Vernunft hielt mich davon ab.

„Sind wir hier dann fertig?", fragte er, nachdem ich eine Weile stumm geblieben war. „Nein." Er stöhnte. „Du wirst Bear, Free und Neha dazu bringen, wieder hier einzuziehen." Er lachte. „Für kein Geld der Welt." „Was ich dir biete, ist kein Geld." Seine Augen blitzten wütend auf. „In dem Fall ist der Deal vom Tisch. Free, Bear und auch Neha haben jedes Recht der Welt, von hier weg zu wollen.

Die drei werden selbst entscheiden, wann der richtige Moment ist, wieder zurückzukommen. Ich werde meiner Familie nicht in den Rücken fallen und sie dazu drängen, etwas zu tun, wozu sie nicht bereit sind, und sie in eine Umgebung schicken, die schlecht für sie ist."

Ich wollte widersprechen, aber Kenny ließ mich nicht sprechen. Eine Handbewegung und ich schwieg. Der Junge strahlte eine unfassbare Autothorität aus.

"Kenny." Er blieb am Türrahmen stehen und schaute noch einmal kurz auf mich herab „Ja?" „Pass auf sie auf." Er lächelte leicht, bevor er aus der Tür verschwand.

„Immer."

I'll wait for you (L.S)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt